Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)

Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)

Titel: Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Brontë
Vom Netzwerk:
Reichtums wegen nicht ganz übergangen werden konnte, behielt das Amt eines Kassenverwalters; aber bei der Erledigung seiner Pflichten standen ihm Herren von mitfühlenderem Wesen und humanerem Charakter zur Seite. Auch sein Amt als Inspektor musste er mit Leuten teilen, welche Strenge mit Vernunft, Komfort mit Sparsamkeit und Mitgefühl mit Gerechtigkeit zu paaren wussten. In solcher Gestalt verbessert, wurde die Schule mit der Zeit zu einer wahrhaft nützlichen und edlen Gründung. Ich verblieb nach ihrer Erneuerung noch acht Jahre als Bewohnerin in ihren Mauern: sechs Jahre als Schülerin und zwei als Lehrerin. In beiden Eigenschaften kann ich nur ihren großen Wert und ihre Wichtigkeit bezeugen.
    Während dieser acht Jahre war mein Leben außerordentlich einförmig, aber nicht unglücklich, weil es nicht untätig war. Die Mittel, mir eine ausgezeichnete Erziehung anzueignen, waren mir an die Hand gegeben, und ich konnte bei meinen Studien auch eigene Vorlieben entwickeln. Der Wunsch, in allen Fächern das Höchste zu erreichen, verbunden mit dem innigen Bedürfnis, meine Lehrerinnen zu erfreuen, besonders jene, welche ich mochte – dies alles trieb mich vorwärts, und ich nutzte ausgiebig alle Gelegenheiten, welche sich mir darboten. Mit der Zeit stieg ich zur besten Schülerin in der ersten Klasse empor, dann wurde ich mit dem Posten einer Lehrerin betraut. Die Pflichten dieses Amtes erfüllte ich hingebungsvoll über einen Zeitraum von zwei Jahren. Doch nach Ablauf dieser Zeit gab es eine Veränderung.
    Während aller Wandlungen war Miss Temple die Vorsteherin der Schule geblieben; ihrem Unterricht verdankte ich den besten Teil meiner Kenntnisse; ihre Freundschaft und ihre Gesellschaft waren mein immerwährender Trost gewesen. Sie hatte den Rang einer Mutter bei mir eingenommen, sie war meine Erzieherin und später meine Gefährtin gewesen. Dann heiratete sie und zog mit ihrem Mann – einem Geistlichen, der ein ausgezeichneter Mensch und seiner Gattin beinahe würdig war – in eine entfernte Grafschaft; für mich war sie folglich verloren.
    Seit dem Tag, an dem sie uns verließ, war ich nicht mehr dieselbe. Mit ihr war jedes Gefühl der Festigkeit, jede Gemeinschaft, die Lowood bis zu einem gewissen Grade zu meiner Heimat gemacht hatte, dahin. Ich hatte einiges von ihrer Natur und viele ihrer Gewohnheiten angenommen – harmonischere Gedanken und geordnetere Empfindungen wohnten nun in meiner Seele. Ich hatte mich der Pflicht und der Ordnung unterworfen und war ruhig geworden. Ich glaubte, dass ich zufrieden sei; den Augen anderer, oft sogar meinen eigenen, erschien ich als ein disziplinierter und gefestigter Charakter.
    Aber das Schicksal trat zwischen Miss Temple und mich in Gestalt von Reverend Mr. Nasmyth. Ich sah sie kurz nach der Trauung im Reisekleid in die Postkutsche steigen, sah den Wagen den Hügel hinauffahren und hinter dem Hügel verschwinden. Dann ging ich auf mein Zimmer. Und dort verbrachte ich in Einsamkeit den größten Teil des halben Ferientages, den man uns zu Ehren der Feier gewährt hatte.
    Viele Stunden lang ging ich im Zimmer auf und ab. Ich bildete mir ein, dass ich nur meinen Verlust betrauere und überlegte, wie ich ihn ersetzen könnte. Als ich aber am Ende meiner Überlegungen aufsah und bemerkte, dass der Nachmittag bereits vergangen und selbst der Abend schon weit fortgeschritten war, da dämmerte eine andere Entdeckung vor mir auf: Ich fühlte, dass ich gerade eine Veränderung durchgemacht hatte, dass mein Gemüt alles abgestreift hatte, was von Miss Temple entlehnt war – oder vielmehr, dass sie die reine Atmosphäre, welche ich in ihrer Nähe eingeatmet hatte, mit sich genommen hatte, und dass ich jetzt in meinem eigenen natürlichen Element zurückgeblieben sei. Ich fühlte, wie die alten, wilden Gefühle wieder in mir erwachten. Es war nicht, als ob mir eine Stütze genommen sei, sondern vielmehr, als ob eine bewegende Kraft verlorengegangen wäre. Nicht, als ob die Fähigkeit, ruhig und zufrieden zu sein, geschwunden sei, sondern als ob die Ursache der Zufriedenheit dahin wäre. Für viele Jahre war Lowood meine ganze Welt gewesen; meine Erfahrung kannte nichts anderes als seine Vorschriften, sein System. Jetzt aber fiel mir ein, dass die Welt groß war, und dass ein weites, wechselvolles Feld von Furcht und Hoffnung, von Bewegung und Anregung jene erwartete, welche genug Mut besaßen, in diese Weite hinauszugehen, um wirkliche Lebenserfahrung und Kenntnisse inmitten

Weitere Kostenlose Bücher