Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
und die Strahlen des unbewölkten Sommermondes halfen mir, ihn zu finden. Ein scharfer Geruch von Kampfer und gebranntem Essig warnte mich, als ich mich dem Zimmer der Fieberkranken näherte; schnell eilte ich an der Tür vorüber, aus Furcht, dass die Krankenwärterin, welche die ganze Nacht wachen musste, mich hören könnte. Ich hatte Angst davor, entdeckt und zurückgeschickt zu werden, denn ich musste Helen sehen, ich musste sie umarmen, bevor sie starb, musste ihr einen letzten Kuss geben, noch ein letztes Wort mit ihr sprechen.
Nachdem ich die Treppe hinuntergegangen war, einen Teil vom Erdgeschoss des Hauses durchschritten hatte und es mir gelungen war, ohne Geräusch zwei Türen zu öffnen, erreichte ich eine zweite Treppe. Diese stieg ich wieder hinaufund befand mich dann gerade vor der Tür von Miss Temples Zimmer. Durch das Schlüsselloch und eine Spalte unterhalb der Tür fiel ein Lichtschein, ringsum herrschte tiefste Stille. Als ich näher kam, fand ich die Tür ein wenig geöffnet, wahrscheinlich, um in das dumpfe Krankengemach etwas Luft dringen zu lassen. Nicht gewillt zu zögern, drängend vor Ungeduld und mit in heftigem Schmerz erbebenden Sinnen öffnete ich die Tür ganz und blickte hinein. Meine Augen suchten Helen und fürchteten, nur den Tod vorzufinden.
Dicht neben Miss Temples Bett und halb verhängt von dessen weißen Vorhängen stand ein kleines Bettchen. Ich sah die Umrisse einer Gestalt unter der Bettdecke, doch das Gesicht war durch die Gardinen verdeckt. Die Wärterin, mit welcher ich im Garten gesprochen hatte, saß in einem Lehnstuhl und schlief. Eine halb herabgebrannte Kerze, die auf dem Tisch stand, verbreitete ein trübes Licht. Miss Temple war nicht sichtbar, später erfuhr ich, dass sie zu einer im Delirium liegenden Fieberkranken gerufen worden war. Ich wagte mich weiter ins Zimmer hinein, dann stand ich still neben dem kleinen Bett, und meine Hand fasste den Vorhang, doch hielt ich es für besser, zu sprechen, bevor ich denselben zur Seite zog. Ein Schauer fasste mich bei dem Gedanken, dass ich vielleicht nur noch eine Leiche sehen könnte.
»Helen«, flüsterte ich sanft, »bist du wach?«
Sie bewegte sich und schob den Vorhang selbst zurück, und ich blickte in ihr bleiches, abgezehrtes aber ruhiges Gesicht. Sie schien so wenig verändert, dass meine Furcht augenblicklich schwand.
»Bist du’s wirklich, Jane?«, fragte sie mit ihrer gewohnten, sanften Stimme.
›Ah!‹, dachte ich, ›sie wird nicht sterben; sie irren sich alle. Wäre das der Fall, so könnte sie nicht so ruhig, so friedlich aussehen, das wäre gar nicht möglich.‹
Ich ging an ihr Bett und küsste sie, ihre Stirn war kalt und ihre Wangen waren abgezehrt, ebenfalls ihre Hände und ihre Arme – aber ihr Lächeln war das alte geblieben.
»Weshalb kommst du hierher, Jane? Es ist schon nach elf Uhr, ich habe es vor einigen Minuten schlagen hören.«
»Ich kam, um dich zu sehen, Helen. Ich hörte, du seist sehr krank, und ich konnte nicht einschlafen, bevor ich noch einmal mit dir gesprochen hatte.«
»Du bist also gekommen, um mir Lebewohl zu sagen? Wahrscheinlich bist du gerade noch zur rechten Zeit gekommen.«
»Willst du fort, Helen? Willst du etwa nach Hause?«
»Ja, nach Hause – in meine letzte, meine ewige Heimat.«
»Nein, nein, Helen«, unterbrach ich sie jammernd. Während ich versuchte, meiner Tränen Herr zu werden, hatte Helen einen heftigen Hustenanfall, der aber die Krankenwärterin nicht aufweckte. Als er vorüber war, lag Helen einige Minuten ganz erschöpft da. Dann flüsterte sie:
»Jane, deine Füße sind nackt; leg dich zu mir ins Bett und deck dich zu.«
Dies tat ich, sie schlang ihren Arm um mich, und ich schmiegte mich dicht an sie. Nach langem Schweigen fuhr sie flüsternd fort:
»Ich bin sehr glücklich, Jane, und wenn du hörst, dass ich gestorben bin, so musst du mir versprechen, nicht zu trauern, denn es ist nichts zu betrauern. Wir alle müssen ja eines Tages sterben, und die Krankheit, die mich fortrafft, ist nicht schmerzhaft; sie schreitet langsam und schmerzlos fort; mein Gemüt ist in Frieden. Ich hinterlasse niemanden, der mich betrauert: Ich habe nur einen Vater, er hat vor kurzem wieder geheiratet und wird mich nicht vermissen. Ich sterbe zwar jung, aber ich werde auch vielen Leiden entgehen. Ich hatte keine Eigenschaften, keine Talente, die mir geholfen hätten, einen guten Weg durch die Welt zu machen. Fortwährend würde ich das Verkehrte getan
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