Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
jetzt werde ich sie noch lieber haben als bisher. Wie wäre es denn möglich, dass ich den verzogenen Liebling einer reichen Familie, der seine Gouvernante wie ein notwendiges Übel hassen würde, einer armen, einsamen Waise vorziehen könnte, die an mir hängt wie an einer Freundin?«
»Ah! Das ist also das Licht, in dem Sie die Sache ansehen! Nun, ich muss jetzt hineingehen. Und Sie ebenfalls, es wird dunkel!«
Aber ich blieb noch einige Minuten mit Pilot und Adèle draußen, lief mit ihr um die Wette und spielte noch eine Partie Federball. Als wir endlich ins Haus gegangen waren, nahm ich ihr Hut und Mantel ab und setzte sie auf meinen Schoß. Dort behielt ich sie eine Stunde und erlaubte ihr, nach Herzenslust zu plaudern. Ich erteilte ihr auch keinen Verweis für einige kleine Freiheiten und altkluge Reden, in die sie leicht zu verfallen pflegte, wenn sie Beachtung fand, und welche eine Oberflächlichkeit des Charakters verrieten, die sie wahrscheinlich von ihrer Mutter geerbt hatte und die zu einem englischen Gemüt durchaus nicht zu passen schien. Aber sie hatte ja auch ihre guten Seiten, und ich war geneigt, alles Gute bei ihr aufs Höchste zu schätzen. Ich suchte in ihren Zügen und ihrem Gesichtsausdruck eine Ähnlichkeit mit Mr. Rochester, aber ich fand keine – kein Zug, keine Miene verriet eine Verwandtschaft. Es war schade. Wenn man ihm nurhätte beweisen können, dass sie Ähnlichkeit mit ihm habe, so würde er mehr Liebe für sie gehegt haben.
Erst nachdem ich mich abends in mein Zimmer zurückgezogen hatte, um mich schlafen zu legen, begann ich ernstlich über die Geschichte nachzudenken, die Mr. Rochester mir erzählt hatte. Wie er selbst sagte, war der Kern der Erzählung wahrscheinlich gar nichts Außergewöhnliches. In der besseren Gesellschaft war die Leidenschaft eines reichen Engländers für eine französische Sängerin oder Tänzerin und ihr Verrat an ihm gewiss eine Sache, die ohne Zweifel alle Tage vorkam. Aber in der krampfhaften Erregung, die ihn so plötzlich erfasste, als er im Begriff war, mir die gegenwärtige Zufriedenheit seiner Seele und seine neu erstandene Freude an dem alten Herrenhaus und seiner Umgebung zu schildern, lag entschieden etwas Seltsames. Über diesen Umstand dachte ich verwundert nach, aber nach und nach entließ ich ihn aus meinen Gedanken, da ich ihn für den Augenblick unerklärlich fand, und wandte mich der Art und Weise zu, welche der Herr des Hauses mir gegenüber an den Tag legte. Das Vertrauen, welches er mir zu schenken für gut befunden hatte, schien ein Tribut, den er meiner Diskretion zollte: Ich sah es wenigstens dafür an und schätzte es auf diese Weise. Während der letzten Wochen war sein Betragen gegen mich gleichmäßiger gewesen als am Anfang. Ich schien ihm niemals mehr im Weg zu sein, er bekam nicht mehr jene Anfälle erstarrenden Hochmuts und wenn er mir unerwartet begegnete, so schien diese Begegnung ihm willkommen zu sein. Er hatte stets ein Wort und zuweilen auch ein Lächeln für mich, und wenn er mich in aller Form auffordern ließ, ihm Gesellschaft zu leisten, so wurde ich mit einem so außerordentlich freundlichen Empfang beehrt, dass ich deutlich merkte, wie wertvoll ihm meine Unterhaltung war, und dass er diese abendlichen Zusammenkünfte ebenso sehr zu seinem eigenen Vergnügen wie zu meinem Wohle suchte.
Ich sprach verhältnismäßig wenig, aber es war mir ein Genuss, ihn sprechen zu hören. Es lag in seiner Natur, mitteilsam zu sein. Er liebte es, einem Gemüt, das mit der Welt unbekannt war, Bilder und Szenen vorzuführen – und ich meine nicht lasterhafte Bilder und wüste Szenen, sondern solche, welche durch ihre Neuheit fesseln konnten und ihr Interesse von dem großen Schauplatz herleiteten, auf welchem sie spielten. Und es war für mich eine reine Wonne, die neuen Gedanken, welche er bot, in mich aufzunehmen, mir die Bilder zu vergegenwärtigen, welche er malte, und ihm durch die neuen Regionen zu folgen, welche er eröffnete. Niemals erschreckte oder bekümmerte er mich durch eine verderbliche, schädliche Anspielung.
Die Leichtigkeit und Freiheit seiner Manieren befreite mich von quälendem Zwang; seine freundliche Offenherzigkeit, die ebenso korrekt wie wohltuend war, zog mich zu ihm hin. Zuweilen war mir, als sei er mir nahe verwandt, und ich vergaß ganz, dass er eigentlich mein Brotherr war. Wohl war er hier und da noch gebieterisch und herrisch, aber es kränkte mich nicht mehr – ich wusste, dass dies nun
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