Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
Haube. Sie war emsig mit ihrer Arbeit beschäftigt, in welcher alle ihre Gedanken aufzugehen schienen. Auf ihrer harten Stirn und in ihren gewöhnlichen Zügen war nichts von der Blässe und der Verzweiflung sichtbar, welche man auf dem Gesicht einer Frau erwartet haben würde, die einen Mordversuch begangen hatte, und deren erwähltes Opfer ihr am vorhergehenden Abend in ihren Schlupfwinkel gefolgt war und sie – wie ich glaubte – des beabsichtigten Verbrechens angeklagt hatte. Ich war erstaunt und verwirrt. Sie sah auf, als ich sie noch anstarrte. Sie fuhr nicht zusammen, kein Wechsel der Farbe verriet irgendeine Bewegung, von der man auf ein Schuldbewusstsein oder auf eine Furcht vor Entdeckung hätte schließen können. Sie sagte: »Guten Morgen, Miss«, in ihrer gewöhnlichen, knappen und phlegmatischen Weise. Dann nahm sie einen neuen Ring und ein Stück Schnur zur Hand und nähte weiter.
›Ich werde sie auf die Probe stellen‹, dachte ich, ›eine solche Kaltblütigkeit geht über meine Begriffe.‹
»Guten Morgen, Grace!«, sagte ich. »Ist hier irgendetwas geschehen? Mir war, als hätte ich vor kurzem die Stimmen der Dienstboten gehört.«
»Nein. Der Herr hat nur gestern Abend im Bett gelesen, ist eingeschlafen und hat das Licht brennen lassen; so gerieten die Vorhänge in Brand. Aber zum Glück ist er aufgewacht, ehe die Betten oder das Holz der Bettstelle Feuer fingen, und es ist ihm gelungen, das Feuer mit dem Wasser aus dem Waschkrug zu löschen.«
»Eine seltsame Geschichte!«, sagte ich leise, dann fuhrich fort und blickte sie fest an: »Hat Mr. Rochester niemanden geweckt? Hat ihn denn niemand gehört?«
Wiederum blickte sie zu mir auf, und diesmal glaubte ich, etwas wie Schuldbewusstsein in ihren Augen zu entdecken. Sie schien mich genau zu prüfen, dann entgegnete sie:
»Sie wissen, Miss, die Dienstboten schlafen so weit entfernt; es ist recht unwahrscheinlich, dass sie ihn da gehört haben. Mrs. Fairfax’ Zimmer und das Ihrige sind dem Zimmer des Herrn am nächsten; aber Mrs. Fairfax sagt, dass sie nichts gehört hat. Wenn Leute älter werden, haben sie oft einen festen Schlaf.« Sie hielt inne und fügte dann mit gespielter Gleichgültigkeit, aber immer noch in sehr deutlichem und bedeutsamem Ton hinzu: »Aber Sie sind jung, Miss, und man sollte doch meinen, dass Sie einen leichten Schlaf haben. Vielleicht haben
Sie
ja ein Geräusch vernommen?«
»Das habe ich«, sagte ich so leise wie möglich, sodass Leah, welche noch immer die Scheiben putzte, mich nicht hören konnte. »Und anfangs glaubte ich, dass es Pilot sei. Aber Pilot kann nicht lachen, und ich bin sicher, dass ich ein Lachen vernommen habe, ein sehr seltsames noch dazu.«
Sie nahm einen neuen Faden für ihre Nadel, wachste ihn sorgsam, fädelte ihn mit fester Hand ein und bemerkte dann mit vollkommener Fassung:
»Es ist kaum denkbar, Miss, dass der Herr gelacht haben sollte, wenn er in solcher Gefahr war, sollte ich meinen. Sie müssen geträumt haben.«
»Ich habe nicht geträumt«, erwiderte ich mit einiger Erregung, denn ihre eiserne Ruhe reizte mich. Wiederum blickte sie mich mit einem durchdringend-prüfenden Blick an.
»Haben Sie dem Herrn gesagt, dass Sie ein Lachen gehört haben?«, fragte sie.
»Ich habe noch nicht die Gelegenheit gefunden, heute Morgen mit ihm zu sprechen.«
»Ist es Ihnen denn nicht eingefallen, Ihre Tür zu öffnen und in die Galerie hinauszusehen?«, fragte sie weiter.
Sie schien ein Kreuzverhör mit mir anstellen zu wollen, indem sie mir unvermutet Antworten zu entreißen suchte. Plötzlich kam mir der Gedanke, dass, wenn sie entdeckte, dass ich von ihrer Schuld etwas wisse, sie mir einige von ihren boshaften Streichen spiele würde. So hielt ich es denn für ratsam, auf der Hut zu sein.
»Im Gegenteil«, sagte ich, »ich verriegelte meine Tür.«
»So pflegen Sie Ihre Tür also nicht jeden Abend zu verriegeln, bevor Sie sich schlafen legen?«
›Zum Teufel! Sie will meine Gewohnheiten ausforschen, damit sie danach ihre Pläne schmieden kann!‹, dachte ich. Empörung trug aber wiederum den Sieg über die Vorsicht davon, und ich erwiderte scharf: »Bis jetzt habe ich es stets unterlassen, den Riegel vorzuschieben; ich hielt es nicht für notwendig. Ich wusste nicht, dass auf Thornfield Hall irgendeine Gefahr oder ein Ärger zu erwarten sei. Aber in Zukunft …«, und ich legte einen besonderen Nachdruck auf die Worte, »… in Zukunft werde ich so vorsichtig sein und alles sichern,
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