Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
– Ist Mr. Rochester verreist? Ich wusste nicht einmal, dass er nicht im Hause ist.«
»Ja, er ist gleich nach dem Frühstück aufgebrochen. Er ist nach Leas, dem Gut von Mr. Eshton, das zehn Meilen jenseits Millcote liegt. Ich glaube, es ist dort eine große Gesellschaft versammelt, Lord Ingram, Sir George Lynne, Colonel Dent und noch viele andere.«
»Erwarten Sie ihn heute Abend noch zurück?«
»Nein. Und morgen auch noch nicht. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass er eine Woche oder länger fortbleibt. Wenn diese reichen und vornehmen Leute zusammenkommen, sind sie so von Eleganz und Fröhlichkeit umgeben und so gut mit allem versehen, was gefällt und unterhält, dass sie durchaus keine Eile haben, wieder auseinanderzugehen. Besonders Herren sind bei solchen Gelegenheiten oft gefragt, und Mr. Rochester ist in Gesellschaft so charmant und lebhaft, dass ich glaube, er ist der allgemeine Liebling. Die Damen haben ihn sehr gern, obgleich man vielleicht der Ansicht sein mag, dass sein Äußeres ihn nicht gerade begehrenswert erscheinen lässt; aber ich vermute, dass seine Kenntnisse und seine Talente, vielleicht auch sein Reichtum und sein alter Name ein wenig für seinen Mangel an Schönheit entschädigen.«
»Sind auch Damen in Leas?«
»Mrs. Eshton und ihre drei Töchter sind dort, sehr elegante junge Damen. Und dann sind noch die hochwohlgeborene Blanche und ihre Schwester Mary Ingram da, sehr schöne Frauen, wie ich vermute. In der Tat, ich habe Blanche einmal vor ungefähr sechs oder sieben Jahren gesehen, als sie ein junges Mädchen von achtzehn war. Sie kam zu einer Weihnachtsgesellschaft mit Ball hierher, welche Mr. Rochester gab. An jenem Tag hätten Sie sehen sollen, wie reich das Speisezimmer dekoriert und wie herrlich es erleuchtet war! Ich glaube, es waren mindestens fünfzig Herren und Damen hier – alle aus den ersten Familien der Grafschaft. Und Miss Ingram war die Schönheit des Abends.«
»Sie sagen, dass Sie sie gesehen haben, Mrs. Fairfax? Wie sah sie aus?«
»Ja, ich habe sie gesehen. Die Türen des Speisezimmers waren geöffnet; und da es Weihnachtszeit war, war es den Dienstboten gestattet, sich in der Halle zu versammeln, um einige der Damen singen und spielen zu hören. Mr. Rochester wollte, dass ich hineinkomme, und so setzte ich mich in einen stillen Winkel und beobachtete sie alle. Niemals in meinem Leben habe ich ein prächtigeres Bild gesehen: Die Damen waren in den kostbarsten Toiletten; – die meisten, wenigstens die jüngeren, sahen sehr schön aus, aber Miss Ingram war entschieden die Königin.«
»Und wie sah sie aus?«
»Groß, eine schöne Büste, runde Schultern, ein langer, schlanker Hals, dunkler, klarer Teint, edle Züge. Mit Augen, welche denen Mr. Rochesters gleichen, groß, schwarz und ebenso strahlend wie ihre Juwelen. Und dann hatte sie das prächtigste Haar, rabenschwarz und sorgsam frisiert; rückwärts eine Krone von dicken, breiten, geflochtenen Zöpfen und vorn die längsten, glänzendsten Locken, die ich jemals gesehen habe. Sie war in strahlendes Weiß gekleidet und hatte eine bernsteinfarbene Schärpe über Schultern undBrust geschlungen, die an der Seite geknüpft war und in langen Fransen bis an den Saum des Kleides herabfiel. Dazu trug sie eine ebenfalls bernsteinfarbene Blume im Haar, welche mit der rabenschwarzen Masse ihrer Locken wunderbar kontrastierte.«
»Und natürlich wurde sie sehr bewundert?«
»Ja, in der Tat, und nicht allein um ihrer Schönheit, sondern auch um ihrer Talente willen. Sie war eine der Damen, die sangen, ein Herr begleitete sie auf dem Piano. Sie und Mr. Rochester sangen auch ein Duett.«
»Mr. Rochester? Ich wusste nicht, dass er singt.«
»Oh, er hat eine sehr schöne Bassstimme und ein feines Ohr für Musik.«
»Und Miss Ingram? Was für eine Stimme hatte sie?«
»Eine sehr reiche und kraftvolle. Sie sang entzückend; es war ein Genuss, ihr zuzuhören. Und später spielte sie auch. Ich verstehe nichts von Musik, aber Mr. Rochester schon. Und ich hörte ihn sagen, dass ihre Darbietung außergewöhnlich gut sei.«
»Und diese schöne und talentierte Dame ist noch nicht verheiratet?«
»Wie es scheint nicht. Ich glaube, dass weder sie noch ihre Schwester ein bedeutendes Vermögen haben. Die Güter des alten Lord Ingram waren zum größten Teil Fideikommiss, und der älteste Sohn hat beinahe alles geerbt.«
»Aber es wundert mich, dass kein reicher Edelmann oder Gentleman sich in sie verliebt hat. Mr.
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