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Januarfluss

Januarfluss

Titel: Januarfluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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anfühlte. Oder zumindest für mich anfühlte. Für meine armen Eltern muss sie quälend langsam vergangen sein. Ich verdränge mein schlechtes Gewissen. Lang müssen sie ja nicht mehr auf mich warten.
    Meinen Seesack lasse ich im Keller, er wird mich nur behindern. Nichts, was sich darin befindet, benötige ich noch. Die Abschrift des Briefes falte ich zusammen und schiebe sie unter den Ärmel des Kleides, das ich unter dem Gewand trage. Zum Schluss lege ich mir den Schleier über den Kopf und verlasse mein Versteck. Wenn mir jetzt jemand auf der Kellertreppe begegnet, wird er denken, er habe es mit einem Gespenst zu tun. Ich kichere leise vor mich hin.
    Dona Marta nickt mir kaum merklich zu, als ich durch den noch relativ leeren Schankraum auf die praça gehe. Draußen schlägt mir die Sommerhitze entgegen, als würde jemand ein heißes, nasses Handtuch über mich werfen. Nach meinem Aufenthalt im Keller sollte sich die Freiheit anders anfühlen, nicht so beklemmend. Ich kann kaum atmen, so schwer ist die Luft.
    Von fern hört man die Musik des Umzugs. Der Streckenverlauf wird, da in Rio jeder Stadtteil sein eigenes kleines Karnevalsfest hat, wahrscheinlich kreisförmig sein, sodass er dort endet, wo er begonnen hat: hier auf der praça, wo vor gerade mal einer Woche das Tanzvergnügen stattgefunden hat. Die armen Leute verstehen es wirklich zu feiern, obwohl sie dazu viel weniger Anlass haben als der wohlhabende Teil der Bevölkerung. Wieder eines der paradoxen Dinge, über die ich nachdenken will, sobald ich Zeit und Muße dazu habe.
    Außer mir, der Prinzessin aus 1001 Nacht, sind nicht allzu viele Leute auf dem Platz. Vermutlich handelt es sich um einige Nachzügler, die den Anschluss an den Umzug verloren haben. Ein Mann hat sich als Gaucho verkleidet, mit einem schwarzen Umhang, schwarzem flachem Hut und rotem Halstuch, das er sich über Kinn und Mund gezogen hat. Er sieht gefährlich aus in dem Aufzug, was wohl genau seine Absicht ist. Instinktiv weiche ich daher einen Schritt zurück, als der Gaucho mir näher kommt. Zufällig fällt mein Blick auf seine Schuhe– und ich stoße einen kleinen Schreckensschrei aus. Es sind dieselben schwarzen Lackschuhe, die ich vor nicht einmal einer Stunde über dem Kellerfenster gesehen habe. Ich drehe mich um und will fortlaufen, doch da ist er schon bei mir und hält mich am Ärmel fest.
    Â» Nicht so eilig, meine schöne Isabel. Spürst du das in deinem Rücken? «
    Und ob ich es spüre! Er drückt mir einen Gegenstand so fest gegen die Rippen, dass es schmerzt.
    Â» Das ist eine Pistole. Nur für den Fall, dass du mir wieder entwischen willst. Diesmal würdest du nicht weit kommen. «
    Â» Lassen Sie mich los! « , zische ich.
    Â» Erst, wenn du mir den Brief gegeben hast. «
    Â» Ich habe ihn nicht mehr. «
    Â» Du lügst doch, du kleine Teufelin! «
    Â» Nein, glauben Sie mir. Als mein, ähm, Freund von Ihnen halb tot geprügelt worden war, habe ich das Original an einer sicheren Stelle deponiert. «
    Â» Nun, dann gehen wir jetzt dorthin und holen ihn. «
    Â» Das geht nicht. «
    Â» Verflucht, Isabel! Versuch nicht, mich hinzuhalten. Meine Geduld ist langsam erschöpft. «
    Â» Ich halte Sie nicht hin. Es ist nur so, dass ich den Brief verschickt habe, per Postboten. Er ist bestimmt noch nicht beim Empfänger angekommen, aber im Briefkasten liegt er wahrscheinlich auch nicht mehr. «
    Â» Du bist ein raffiniertes Mädchen, Isabel. Hast immer auf alles eine Antwort, was? Aber das wird dir nichts nützen. Wenn du erst meine Frau bist– und das wirst du, denn du gefällst mir, weil du anders bist als die anderen langweiligen jungen Damen–, dann werde ich dir deine Widerspenstigkeit schon austreiben. «
    Â» Mir war gar nicht bekannt, dass verurteilte Mörder überhaupt noch heiraten dürfen. Ich meine, vor ihrer Hinrichtung. «
    Er wirft den Kopf zurück und lacht. Dieses grausame, hämische Lachen weckt die reinsten Mordgelüste in mir. Wenn ich jetzt die Pistole hätte und nicht er, ich würde abdrücken, ohne mit der Wimper zu zucken. Noch nie in meinem Leben habe ich einen so wilden Hass für jemanden empfunden wie jetzt für diesen Dreckskerl, diesen Abschaum.
    Der Umzug kommt näher. Die Musik wird lauter, der Platz füllt sich mit Menschen. Ich denke fieberhaft über einen Ausweg

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