Januarfluss
mein Lachanfall irgendwie in einen Heulkrampf übergegangen. Ich weià nicht, was mit mir los ist.
» Weiber « , sagt José kopfschüttelnd.
Es dauert eine Weile, bis ich mich wieder gefangen habe. Die Anspannung, die plötzlich von mir abgefallen ist, die Erleichterung darüber, das Schlimmste noch einmal abgewendet zu haben, sowie die Absurdität meiner derzeitigen Lageâ das alles zusammen war wohl der Auslöser für diesen merkwürdigen hysterischen Gefühlsausbruch.
Als mein Verstand wieder einsetzt, überkommt mich Freude: Es scheint zu funktionieren. Fernando folgt der falschen Fährte, die ich ausgelegt habe. Er wird sich nun hoffnungsfroh zu der Adresse begeben, die auf dem Briefkopf des einstmals feinen Büttenpapiers genannt wird. Gustavo wohnt in einer der teuersten Gegenden Riosâ schön weit entfernt von dem Arbeiterviertel, in dem ich mich aufhalte.
Und der Brief, mein vermeintlich kostbarster Besitz? Den ich gehütet habe wie meinen Augapfel? Er ist mir völlig egal. Ich merke, wie ich meine Lippen zu einem kleinen, geheimnisvollen Lächeln verziehe. Fort ist die lächerliche Notiz von Gustavo und mit ihr die Erinnerung an einen jungen Mann, den ich kaum kenne, der aber vermutlich oberflächlich und eingebildet ist. Ich fühle mich um Tonnen leichter.
Warum habe ich so lange gebraucht, um die Wahrheit zu erkennen? Wie konnte ich so blind sein? Wieso habe ich mich von dem schönen Schein, der Gustavo umgibtâ sein gutes Aussehen, seine vollendeten Manieren, seine vornehme Herkunftâ derartig blenden lassen? Sind andere Vorzüge nicht viel wichtiger?
Ich denke an Lus Witz, seine Intelligenz, seine Warmherzigkeit, und sehe seine funkelnden Augen vor mir, sein mitreiÃendes Lächeln, seine anmutige Gestalt. Ich erinnere mich an all die Situationen, in denen er mich ohne mein Wissen beschützt und sich dabei selbst etlichen Gefahren ausgesetzt hat. Was ist schon materieller Reichtum im Vergleich zu den vielen Gaben, die Lu besitzt? Lu ist im Grunde viel reicher als die meisten anderen Menschen, die ich kenne.
» Was ist? « , fragt José, der aus unerfindlicher Ursache noch immer bei mir im Keller ist.
» Was soll denn sein? Und warum bist du nicht längst wieder oben und bringst Dona Marta die SoÃe? «
» Weil ich⦠Was grinst du denn so schwachsinnig? «
» Ach, nichts weiter « , erwidere ich. » Ich habe nur gerade an jemanden gedacht. «
» An jemanden, den du liebst? « , fragt José.
» Ja. «
» Na, wennâs weiter nix ist « , bemerkt José mit einem schiefen Lächeln, in dem ein wenig Traurigkeit mitschwingt.
Ich lächele zurück und denke: Nein, nichts weiter. Die Wahrheit ist so einfach und lässt sich in drei Worten ausdrücken.
Ich liebe Lu.
33
Ich warte noch ungefähr eine halbe Stunde, bevor ich den Keller verlasse. Diese Zeit benötige ich, um die ungeheuerliche Erkenntnis, die ich gewonnen habe, sacken zu lassen. Ich könnte lachen und weinen zugleich. Ich bin glücklich, weil ich verliebt binâ und ich bin unglücklich, weil Lu womöglich in genau diesem Moment im Gefängnis schikaniert und misshandelt wird. Ich muss dringend etwas unternehmen, um ihn dort herauszuholen.
Aus der noch immer verschmutzten Wachstuchtasche krame ich das Kostüm heraus, das Aldemira mir gegeben hat. Trotz der Hitze ziehe ich das Gewand über meine normale Kleidung, denn man kann ja nie wissen, wann wieder eine Veränderung des ÃuÃeren angebracht ist. Aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen bin ich übervorsichtig geworden. Im Augenblick werde ich aber, vielleicht wegen meines albernen Kostüms, auch ein wenig übermütig. Die Vielzahl unterschiedlicher Empfindungen, die mich aufwühlen, scheint eine Art Hysterie in mir auszulösen. Mit der Kreide, die Dona Marta benutzt, um Markierungen an ihren Vorratsfässern anzubringen, male ich ein Herz an die Kellerwand. Dort hinein schreibe ich in schönen Druckbuchstaben: » Lu & Belâ 11. Februar 1888 « .
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob wir wirklich schon den 11.Februar haben. Mein Zeitgefühl ist bei all den bestandenen Abenteuern durcheinandergeraten. Bin ich wirklich schon seit⦠ich zähle schnell die Tage seit meinem Geburtstagsfest⦠seit 28Tagen fort von zu Hause? Es erscheint mir eine unvorstellbar lange Zeit, viel länger, als sie sich
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