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Januarfluss

Januarfluss

Titel: Januarfluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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ein paar Fragen zu beantworten. Woher wusste er zum Beispiel, dass Dom Fernando mich zu seiner Braut auserkoren hat? Wie konnte er all meine falschen Namen kennen? Ist er mir von Anfang an gefolgt? Und warum hilft er mir? Dass reine Nächstenliebe dafür verantwortlich sein soll, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.
    Ich will gerade den Mund öffnen, um diese Flut an Fragen loszuwerden, als Lu mehr zu sich selbst als zu mir sagt: » Wir sollten uns an den Abstieg machen. Er ist schwieriger als der Aufstieg, und wir haben hier sowieso schon zu viel Zeit vertrödelt. «
    Â» Wir müssen aber noch reden. Du schuldest mir ein paar Antworten. «
    Â» Später « , gibt er knapp zurück.
    Also gut, dann muss ich mich eben noch ein wenig gedulden. Aber ich werde meine Antworten bekommen. In Lus geheimer Hütte im Tijuca-Wald werde ich sicher bald Gelegenheit haben, ihn mir noch einmal vorzunehmen.
    Schweigend klettern wir den Berg hinab und weiterhin schweigend wandern wir den langen Weg zu seiner Hütte. Es ist kein einvernehmliches, friedliches Schweigen, sondern eher eines, das wie eine Wand zwischen uns steht. Ich fühle mich äußerst unwohl dabei, wage aber nicht, zuerst zu sprechen. Schließlich ist es Lu, der nach gut zwei Stunden als Erster wieder das Wort ergreift. Doch was er sagt, beunruhigt mich hundertmal mehr als dieses schreckliche Schweigen.
    Â» Ich bringe dich nachher zu einem sicheren Ort. Hier kannst du nicht bleiben, solange ich weg bin. «

16
    Lu ist schon seit einer Woche fort. Er hat mir weder erklärt, wohin er auf einmal musste, noch den Grund für sein plötzliches Verschwinden genannt. Ich fühle mich verraten. Gerade hatte er begonnen, sich ein wenig zu öffnen, und schon verschließt er sich wieder, wie eine Auster. Ein kurzer Blick auf die schimmernde Perle im Inneren der Auster war mir vergönnt, danach hat er mir wieder die knubbelige, raue Schale gezeigt. Oder wollte ich nur eine Perle sehen, ein kostbares Innenleben? Vielleicht habe ich mich von der Schilderung seiner Erlebnisse dazu verführen lassen, Lu zu sehr in der Rolle eines Unschuldigen zu sehen, eines Jungen, dem das Leben übel mitgespielt hat und der daher gezwungen ist, sich gesetzeswidrig zu verhalten. Was weiß ich schon von ihm? Vielleicht war er immer schon ein Störenfried und ein Taugenichts mit unmoralischem Lebenswandel.
    Jedenfalls habe ich nun Zeit genug, um über all diese Dinge nachzudenken. Lu hat mich bei einer jungen Frau untergebracht, die keine Pension führt und daher keine anderen Gäste außer mir hat. Sie selbst sei absolut vertrauenswürdig, hat Lu mir versichert, bevor er sich verdrückt hat. Hier sitze ich nun also, wieder einmal allein mit mir und meinen Gedanken, und überlege, wie es weitergehen soll. Nach meinen Kammern bei Dona Eufrásia und Dona Ana ist das Zimmer bei meiner jetzigen Zimmerwirtin, Angélica, ein katastrophaler Abstieg. Es ist klein, stickig und schmutzig, genau wie der Rest der Wohnung. Außerdem riecht es nach Schimmel. Es ist nur eines von zwei Zimmern, das andere ist Wohn- und Essraum in einem, in dem sich Angélica nachts eine Matte ausrollt– wenn sie überhaupt die Nacht zu Hause verbringt. Sie hat ihr eigenes Schlafzimmer für mich zur Verfügung gestellt. Dennoch fällt es mir schwer, Dankbarkeit dafür zu empfinden, weil der Raum einfach so scheußlich ist.
    Im Vergleich zu unseren Nachbarn haben wir es aber noch gut. Zu zweit zwei Zimmer zu bewohnen gilt in dieser Gegend als Luxus. Die meisten Familien hausen zu sechst oder noch mehr Leuten in zwei Zimmern, und in Siedlungen wie dieser, cortiços genannt, grassieren lebensgefährliche Krankheiten wie Gelbfieber oder sogar die Pocken. Es ist unmenschlich, so zu leben, ich verstehe nicht, wie man das auf Dauer aushalten kann. Wie zum Hohn lautet der Name unserer Straße Rua Formosa, was so viel bedeutet wie » wunderschöne Straße « . Ich habe nie eine hässlichere gesehen.
    Dafür ist Angélica eine lustige Person. Sie ist nicht viel älter als ich, noch keine zwanzig. Sie ist eine hübsche Mulattin mit dickem Hinterteil und großem Busen, was ich nur deswegen so betone, weil sie selbst es ebenfalls tut. Ihre Kleidung ist, nun ja, sehr gewagt, sodass man mehr von ihrer prallen Figur sieht, als schicklich ist. Angélica lacht viel und geht andauernd aus. Sie ist nächtelang

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