Januarfluss
durchbrechen.
» Sie ist auf einer Fazenda in der Provinz Rio de Janeiro, also gar nicht so weit fort von hier. Sie ist bei guter Gesundheit und arbeitet im Herrenhaus. Aber⦠sie ist jetzt sechzehn und sie ist bildhübsch. Ich will nicht wissen, was dieses Schwein mit ihr anstellt. «
» Welches ⺠Schwein ⹠? Der neue Eigentümer? «
Lu nickt. » Ja. Ein gewisser Dom Fernando. «
Erschrocken zucke ich zusammen. Er meint doch nicht etwaâ¦
» Genau der « , sagt Lu, der offenbar erraten hat, was ich mich gerade gefragt habe.
» Oh nein « , seufze ich. Allmählich erkenne ich den Zusammenhang zwischen Lus Geschichte und meiner eigenen.
» Oh doch. Dieser Mann, der sich Dom Fernando nennen lässt, obwohl er das respektvolle ⺠Dom â¹ in der Anrede gar nicht verdient hat, ist ein übler Verbrecher. Er kauft überall junge Schwarze, die eigentlich frei sind, weil sie weniger kosten als solche, die vor dem Gesetz Sklaven sind. Dann fälscht er ihre Papiere, sodass ihr Geburtsdatum immer vor September 1871 liegt und sie demnach als Sklaven geboren sind. Mit diesem schmutzigen Trick hat er ein Vermögen angehäuft. Er hat auÃerdem jede Menge junge Mädchen in seinem Haushalt beschäftigt, weil er sie gern⦠na ja, er mag sie halt jung und knackig. «
Ich erröte. Die Vorstellung, was Dom Fernando mit den armen Mädchen macht, ist ekelerregend. Und was er wohl mit mir angestellt hätte? Widerlich. Ich habe schon von Plantagenbesitzern munkeln hören, die sich an ihren Sklavinnen vergehen, aber ich habe immer geglaubt, ein GroÃteil davon sei frei erfunden. Die hellhäutigeren Sklavenkinder, die es auf jeder Fazenda gibt, hätten, dachte ich bisher, vielleicht einen weiÃen Viehtreiber oder einen Aufseher zum Vater, aber doch nicht den Senhor selbst. Dabei fällt mir wieder Lus Erzählung ein, die Sonderbehandlung, die er erfahren hat. » War dein Vaterâ¦? « Ich weià nicht, wie ich es formulieren soll. Es ist eigentlich keine Frage, die man jemandem so direkt stellen darf.
» Mein Vater ist José dos Santos! « , erklärt Lu energisch. » Ein guter, kluger, gottesfürchtiger Hufschmied, der nie jemandem etwas zuleide getan hat, aber alle seine Kinder verloren hatâ Rosa an einen anderen Senhor, mich an den Kampf gegen die Sklaverei, die anderen an den lieben Gott, der sie allzu früh zu sich gerufen hat. Er lebt noch immer auf der Fazenda, auf der ich geboren bin, doch das mit Rosa hat ihm das Herz gebrochen. Er ist nicht mehr derselbe wie früher. Und meine Mutter ist in den vergangenen drei Jahren vor Kummer unglaublich gealtert. Sie ist erst Mitte dreiÃig, aber sie sieht aus wie eine alte Frau. Dabei war sie einmal eine echte Schönheit, was ja auch der Grund dafür war, dassder Senhor sie⦠Lassen wir das. Es spielt keine Rolle mehr. «
» Wissen deine Eltern denn, dass es dir gut geht, dass du lebst, dass du für sie kämpfst? «
» Ja. Und deine? Wissen sie, was mit dir passiert ist? «
Oh, das ist ein abrupter Themenwechsel, der mir nicht besonders gefällt. Ich hebe die Schultern in einer Geste, die sowohl Ahnungslosigkeit als auch Gleichgültigkeit ausdrückt.
» Im Gegensatz zu deinen Eltern, die keine Chance hatten, etwas für dich zu tun, haben meine mich verraten. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Mein Bedürfnis, sie zu trösten oder zu beruhigen, hält sich daher in engen Grenzen. «
» Wie du meinst. «
Abermals zucke ich mit den Schultern. Ich gebe vor, mich auf ein Insekt zu konzentrieren, das an meinem Schuh heraufkrabbelt, um Lu nicht in die Augen sehen zu müssen. Auch wenn ich mich so kühl und gelassen gebe, so schäme ich mich doch tief in meinem Innern für mein schäbiges Verhalten meinen Eltern gegenüber. Ich hätte ihnen wirklich eine kurze Notiz zukommen lassen sollen. Andererseits wissen sie inzwischen sicher längst, dass ich in Rio bin und meine Bekannten anbetteleâ Gustavo und Alice werden sich mit ihnen in Verbindung gesetzt haben. Ach, ich will lieber nicht weiter darüber nachdenken.
» Das heiÃt also, du bist auf der Flucht, genau wie ich? « , hake ich nach.
» Nicht ganz so wie du. Man sucht nicht mehr nach mir. Und schon gar nicht mit einem so ungeheuren Aufwand. Tja, anfangs war es manchmal ganz schön knapp, denn ein junger gesunder Bursche ist seinem Herrn
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