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Januarfluss

Januarfluss

Titel: Januarfluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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Sklaven herrschte weniger Disziplin als zu Lebzeiten ihres Herrn, die Kaffeehändler hauten die Witwe übers Ohr, im Herrenhaus kehrte der Schlendrian ein. Bis die Witwe sich, ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes, neu vermählte. Der neue Senhor der Fazenda war ein älterer Herr, auch er verwitwet, der geizig und ungerecht war und für den Zucht und Ordnung über alles gingen.
    Das Leben der Sklaven wurde von nun an sehr viel schwerer. Sie mussten mehr arbeiten, und wer nicht spurte, wurde hart bestraft. Der Unterricht für Luíz wurde sofort gestrichen, stattdessen schickte man den nunmehr 14-Jährigen aufdie Felder. Luíz war groß und kräftig, er hatte harte Arbeit nie gescheut. Doch die Arbeit mit den anderen Feldsklaven setzte ihm sehr zu. Die anderen Jungen und Männer schikanierten ihn, wo sie nur konnten, desgleichen der Aufseher, der es nicht leiden konnte, wenn einer schlauer war als er.
    Um diese Zeit herum begann Luíz sich nach dem Sinn des Lebens zu fragen. Vermutlich hätte er das nie getan, wenn sein Leben weiter in so geordneten Bahnen verlaufen wäre wie bisher. Unter dem einstigen Senhor hatten sie alle ein angenehmes Leben gehabt und nie hatte irgendjemand den Sinn der Weltordnung infrage gestellt. Weiß war weiß und schwarz war schwarz, so war es nun einmal, was sollte man schon tun? Der liebe Gott allein wusste, was er sich dabei gedacht hatte, aber es würde schon seine Richtigkeit haben.
    Nun aber keimten Zweifel und Wut in Luíz. Denn was unter dem neuen Senhor passierte, konnte– durfte – nicht richtig sein.
    Warum sollte ein kluger Mensch, der besser rechnen konnte als der Senhor, auf den Feldern eingesetzt werden, wo nur seine Muskelkraft gebraucht wurde, nicht aber die Gaben seines Geistes? Warum wurde plötzlich die kleine Hütte seiner Familie abgerissen und sie wurden alle in eine große senzala gepfercht, zusammen mit Hunderten anderer Schwarzer und bewacht von zwei schwer bewaffneten Aufsehern? Wieso schickte man auf einmal all die Alten und Kranken fort, die sich ohne Hilfe nicht würden ernähren können?
    Und weshalb ließ man eines Tages alle jungen Schwarzen, die zwischen elf und fünfzehn Jahre alt waren, auf dem Innenhof aufmarschieren, wo zwei weiße Männer sie begutachteten wie Vieh?
    Zu diesen jungen Leuten gehörten auch Luíz und Rosa, vierzehn und dreizehn Jahre alt, er ein Sklave, sie eine » Freie « . Rosas ganze Freiheit bestand allerdings nur darin, dass sie sich hätte auskaufen können, wenn sie denn das Geld besessen hätte. Die Summe ihrer angeblichen Schulden– für Kost und Logis– war beinahe genauso hoch wie der Preis eines jungen, gesunden Sklaven, also lief es praktisch auf das Gleiche hinaus.
    Wie sich herausstellte, waren die beiden weißen Männer auf dem Hof Sklavenhändler. Sie zeigten auf einige der Jugendlichen, die sie für gute » Ware « hielten und kaufen wollten. Zu diesen gehörte auch Rosa. Ihren Einwand, sie sei aber doch frei, ignorierte man schlichtweg.
    Noch am selben Tag wurde Rosa von ihrer Familie getrennt und von den Sklavenhändlern fortgeschafft. Das Geheul der Eltern, Luíz’ Protest und Rosas Widerspenstigkeit wurden mit der Peitsche beendet. Am Tag darauf, es war ein kühler Tag im Mai 1885, flüchtete Luíz von der Fazenda. Er schwor sich, seine geliebte Schwester aus den Klauen dieser Bestien zu befreien und seine ganze Energie auf ein einziges Ziel zu richten: die Sklaverei für immer zu beenden.
    Ich bin so gebannt von dieser tragischen Geschichte, dass ich einen Moment brauche, um wieder in der Wirklichkeit anzukommen. Lu und ich sitzen noch immer auf dem Morro da Urca, blicken auf den Strand von Copacabana und zerquetschen Ameisen, die über unsere Beine krabbeln. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, mir fehlen die angemessenen Worte. Lu will sicher kein Mitleid von mir. Am besten warte ich einfach ab, sicher erzählt er noch weiter. Bisher hat er mir ja noch gar keine Antwort darauf gegeben, warum er mir hilft und warum er so viel über mich weiß. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, was das mit seiner traurigen Vergangenheit zu tun haben soll, aber das klärt sich ja vielleicht noch.
    Doch Lu schweigt. Er starrt in die Ferne, in Gedanken sicher noch bei seiner Schwester.
    Â» Hast du etwas von Rosa gehört? Weißt du, wo sie ist? « , wage ich die Stille zwischen uns zu

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