Januarfluss
unterwegs, aber als ich sie anfangs fragte, wo sie denn immer steckt, lachte sie nur. Sie hat makellose Zähne, die sie gern zeigt. Ihre dicken Lippen hat sie ein wenig zu rot angemalt, damit das Weià ihrer Zähne besser zur Geltung kommt.
Als ich vor rund einer Woche hierherkam, hat Lu mir eingeschärft, mich möglichst wenig aus dem Haus zu begeben. AuÃerdem hat er mir dazu geraten, Angélicas Kleider zu tragen, damit würde ich weniger auffallen. Anfangs habe ich nicht verstanden, was das sollte, denn auffälligere Kleider als die von Angélica habe ich noch nie gesehen. Inzwischen jedoch glaube ich zu wissen, was dahintersteckt. Ich könnte Lu erwürgen für die Schmach, die er mir damit antutâ allerdings muss ich zugeben, dass man mich trotz dieser Kleider hier tatsächlich weniger anstarrt als in den anderen Gegenden, in denen ich kurz gewohnt habe.
Ist das nicht paradox? Je unanständiger ich gekleidet bin und je mehr ich von Angélicas Rouge auftrage, desto besser bin ich getarnt. Denn Angélica ist ein Freudenmädchen. Eine Dirne. Und solange ich ebenfalls aussehe wie eine, wundert sich kein Mensch darüber, ein junges weiÃes Mädchen in diesem Viertel hier anzutreffen.
Die Details des Gewerbes kenne ich natürlich nicht und ich will auch gar nicht so genau darüber Bescheid wissen. Angélica lacht mich sowieso nur aus, wenn ich ein paar vorsichtige Anmerkungen in dieser Richtung mache. Sie findet es amüsant, dass mir das alles furchtbar peinlich ist, genau wie sie es putzig findet, dass ich so » unschuldig « bin. Das wiederum finde ich nicht sehr schmeichelhaft, denn von allen Mädchen in meinem Bekanntenkreis bin ich mit Abstand die am wenigsten Unschuldige. Ich habe gestohlen, gelogen, mich vor der Polizei versteckt. Und nun tarne ich mich sogar als Hure. Ich weià nicht, was daran unschuldig sein soll.
So gut die Tarnung auch ist, so unangenehm kann sie manchmal sein. Abends gehe ichâ aus Sicherheitsgründen, wie Angélica mir immer wieder vorbetetâ nicht auf die StraÃe, doch auch tagsüber gibt es unschöne Situationen. Einmal hat mir eine Frau mittleren Alters auf offener StraÃe vor die FüÃe gespuckt und mich beschimpft, ich hätte ihren Mann verhext. Das war natürlich völlig an den Haaren herbeigezogen, schlieÃlich kenne ich ihren blöden Mann gar nicht. Und ein anderes Mal hat mir ein älterer Mann, der ganz bieder und brav wirkte, einen Klaps aufs Hinterteil gegeben, am helllichten Tag, vor allen Leuten. Es war zutiefst demütigend, zumal ich nicht um Hilfe schreien konnte, denn darum hätte sich bei einem vermeintlichen Freudenmädchen niemand geschert.
Wie Angélica diese permanenten Erniedrigungen aushält, ist mir schleierhaft. Und das sind ja nur die Dinge, die einem tagsüber widerfahren. Nachts nehmen sich die Männer noch viel gröÃere Frechheiten heraus, abgesehen von den widerlichen Dingen, die sie mit den StraÃenmädchen gegen Bezahlung anstellen.
Früher, muss ich mir beschämt eingestehen, war ich kaum besser. Ich hätte eine Dirne, wenn ich denn jemals Kontakt zu einer gehabt hätte, was nie der Fall war, behandelt wie den letzten Abschaum. Heute, gerade einmal zwei Wochen nach meiner Flucht, frage ich mich, was mir das Recht gab, eine solche Verachtung zu empfinden. Wie kann man jemanden, den man doch gar nicht kennt, verurteilen?
Dass manche Mädchen dieser Beschäftigung nachgehen, liegt sicher nicht daran, dass sie so lose Sitten haben. Angélica hat mir einige Beispiele genannt, wie aus normalen Mädchen Dirnen werden können. Oft sind es brutale, geldgierige Männer, die die Mädchen zwingen, ihre Körper zu verkaufen, und ihnen hinterher einen GroÃteil ihres Verdienstes abknüpfen. Dann gibt es auch solche jungen Frauen, die allein in die groÃe Stadt kommen und keine Arbeit finden, die sich also aus reiner materieller Not heraus prostituieren müssen. Und wieder andere sind, vielleicht weil sie ledig und schwanger waren, von ihren Familien verstoÃen und dafür von einer Puffmutter umsorgt worden.
Angélica spricht über ihre Tätigkeit, als handele es sich um einen normalen, ehrenwerten Beruf. Doch sosehr ich mich auch bemühe, verständnisvoll zu sein, so schwer fällt es mir nach wie vor, dieses Gewerbe als » normal « zu betrachten. Zum einen sehe ich immer das entsetzte
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