Jede Sekunde zählt (German Edition)
Tour-Sieger gekrönt zu werden.
Rekorde vermitteln einem ein eigenartiges Gefühl. Sie sind Messlatten, Markierungen, die wir benutzen, um Grenzen zu ziehen. Zu sagen, jemand habe die Tour de France fünfmal gewonnen, ist eine kalte Abstraktion, eine bloße Zahl, die noch nicht einmal den Hauch einer Ahnung der unzähligen Ereignisse und Emotionen vermittelt, die mit diesen Rennen einhergingen, all jener Rückschläge und Etappensiege, all jener Qualen und Triumphe. Vielleicht die Einzigen, die voll und ganz verstehen konnten, was hinter dem Etikett »fünffacher Sieger der Tour de France« steht, waren meine Teamkameraden und die vier Männer, die das vor mir geschafft hatten, und sie alle verbanden ganz eigene Dinge mit dieser Zahl. Ich dagegen wusste nur, wofür sie für mich stand: Die Zahl fünf gab an, wie oft ich wieder auf die Beine gekommen war.
Auf dem Weg herunter vom Podium erwartete mich Bernard Hinault. Er ergriff meine Hand und sagte schlicht: »Willkommen im Klub.«
Die Schlussetappe nach Paris am nächsten Tag geriet zum Triumphzug. Ich rollte dahin, trank Champagner und dachte über die Bedeutung des Rennens nach; über das Wieder-auf-die-Beine-Kommen,über Das-doch-noch-einen-Ausweg-aus-der-Sackgasse-Finden, sei es mit dem Kopf oder mit dem schieren Willen. Auf der Fahrt durch Paris fühlte ich ein Schwellen in meiner Brust. Als wir am Hôtel de Crîllon vorbeikamen, sah ich, dass sie – wie schon in den vier Jahren zuvor – die texanische Flagge aufgezogen hatten.
Der eigentliche Moment des Sieges aber kam für mich erst am Abend, allein mit den Fahrern unseres Teams in einem privaten Speisesaal. Ich erhob mich und brachte einen Toast auf sie aus. »Dieses Jahr war ein sehr hartes Jahr für mich, privat wie sportlich«, sagte ich. »Ich war nicht immer der Beste, und das weiß ich auch. Ich habe uns alle erschreckt, und ich verspreche euch, dass das nie wieder vorkommen wird. Aber ihr Jungs habt mich getragen. Abends nach den Etappen hat es mich immer fast umgebracht, nach unten an den Tisch zu kommen und euch Jungs in die Gesichter zu schauen, so, wie ich euch alle hängen ließ. Erst nach Luz-Ardiden konnte ich euch endlich wieder mit Stolz in die Augen blicken. Ich habe euch wirklich gebraucht, und ihr wart da. Heute bin ich hier wegen euch. Danke, dass ihr zu mir gehalten habt. Dieses Trikot verdanke ich nur euch. Dieses Fest, dieser Abend ist euch zu Ehren. Danke euch allen.«
Damit war für mich die 100. Tour de France zu Ende. Aber, wie ich immer wieder gerne sage, das Leben geht weiter, und neue Dinge passieren.
Kik und ich kehrten mit den Kindern nach Gerona zurück. Wir brachten sie ins Bett, stöpselten das Babytelefon ein und gingen hinunter in das Café direkt vor dem Haus. Wir bestellten kaltes Bier, spanischen Schinken und Brot und saßen schweigend beisammen. Wir sind entschlossen, über unsere Beziehung nachzudenken, an ihr zu arbeiten und in sie zu investieren.
Die nächsten Tage schlug ich alle Einladungen aus, alle Interviews, alle Abenteuer. Anders als nach den bisherigen Tour-Siegen blieb ich einfach zu Hause bei meiner Familie. Ich spielte mit den Kindern und nahm sie mit an den Strand. Wir kauften einenneuen Barbecue-Grill, kochten draußen im Garten und hörten Bob Marley. Ich perfektionierte meine Fertigkeit in der Herstellung von Frozen Margaritas und dachte darüber nach, einfach so, aus purer Lust am Vergnügen, die italienische Amalfi-Küste zu erkunden.
Ich weiß, irgendwo da draußen wartet die nächste Ziellinie auf mich. Aber ich will sie im Grunde gar nicht finden – noch nicht.
Nachwort
I ch habe es schon viele Male gesagt – wenn ich zwischen einem Sieg bei der Tour de France und dem Krebs wählen müsste, ich würde mich für den Krebs entscheiden. Ich bin sehr dankbar für die Erfahrung, und nicht zuletzt deshalb empfinde ich eine große Verantwortung, der »Pflicht der Geheilten« nachzukommen. Aus diesem Grund habe ich die Lance Armstrong Foundation (LAF) ins Leben gerufen. Die LAF widmet sich der Aufgabe, den neun Millionen Krebsüberlebenden zu helfen, die allein in den Vereinigten Staaten mit denselben Problemen zu kämpfen haben wie ich.
Heute, sieben Jahre nach meiner Krebsdiagnose, ist die Stiftung mir immer noch so wichtig wie an dem Tag, als ich sie ins Leben rief. Der Krebs hat mein Leben verändert. Mit dem Moment, als ich die Diagnose erhielt, veränderten sich meine Prioritäten und verlagerte sich mein Fokus. Ich musste mich
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