Jede Sekunde zählt (German Edition)
auch die Pyrenäen ihren Tribut von den Fahrern, und wieder einmal schmiss ein Fahrer, dieses Mal der Franzose Christophe Moreau, sein Fahrrad hin und gab mit Atembeschwerden auf.
Ullrich und ich belauerten uns weiterhin gegenseitig, manchmal sogar Seite an Seite. Der Unterschied in unserem Fahrstil war unverkennbar. Ullrich fuhr mit einer großen Übersetzung, ich dagegen mit einer kleineren; seine Tretfrequenz lag bei 75, meine bei 90. Ullrich war ein großer, wogender Panther auf dem Rad, ich dagegen sah, wie jemand einmal sagte, eher aus wie eine Katze, die einen Baum hochklettert.
Simon lag immer noch 13 Minuten vor uns beiden in Führung. Aber in den Pyrenäen warteten drei schwere Bergetappen mit insgesamt elf hohen Pässen auf uns. Wir wussten, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Simon einen Einbruch hatte, und gingen davon aus, dass es spätestens auf der Etappe nach Pla d’Adet passieren würde, einer schweren, 193 Kilometer langen Bergetappe, die über sechs Pässe führte.
Die Etappe führte an der Stelle vorbei, an der mein alterFreund Fabio Casartelli auf einer Abfahrt bei der Tour 1995 ums Leben gekommen war. Man hatte dort ein wunderschönes Marmordenkmal aufgestellt, und als wir beim Training im Frühjahr daran vorbeigekommen waren, hatte ich angehalten. Die anderen Postal-Fahrer waren weitergefahren, aber ich blieb ein paar Minuten im Nebel stehen und dachte an Fabio zurück. Ich war überrascht, wie sehr mich immer noch jedes Mal die Emotionen packten, wenn ich hier vorbeikam, und ich erinnerte mich daran, wie ich damals, nach seinem Sturz, in meinem Hotelzimmer gesessen und geweint hatte.
Im Rennen selbst blieb mir keine Zeit, meinen Gedanken an Fabio nachzuhängen. Zu viel erforderte meine Aufmerksamkeit, Ullrich, Simon, die Jagd auf das Gelbe Trikot, die pausenlos aufeinander folgenden Anstiege und Abfahrten.
Kurz bevor wir den letzten Anstieg erreichten, geschah etwas, was uns allen schlagartig wieder vor Augen führte, wie gefährlich, wie tragisch unser Sport sein konnte. Wir fuhren mit ungefähr 80 Sachen eine schwierige Abfahrt hinunter, Ullrich vor mir. Die Strecke war nicht kurvenreich, aber schnell, und auf der Straße lag Split, der einen leicht ins Rutschen bringen konnte.
Ullrich drehte sich kurz nach seinen Teamkollegen um und hantierte an seinem Mikrofon herum. Mit einer Hand griff er nach dem Mikrofon und sprach hinein. Bei einer schnellen Abfahrt ist der Fahrtwind so laut, dass man kaum etwas versteht. Ullrich zog das Mikro noch näher heran und nahm den Kopf nach unten.
Vor uns tauchte eine Kurve auf.
Ullrich sah sie nicht.
Oh, oh, dachte ich, und stieg in die Bremsen. Er sollte jetzt besser auch bremsen , dachte ich. Warum zum Teufel bremst er nicht?
Ullrich hob den Kopf, aber zu spät. Er schoss über die Kante, flog geradewegs über das Straßenbankett. In der einen Sekunde war er noch da, in der nächsten verschwunden.
Es sah schrecklich aus – als ob er mit dem Kopf voraus über eine Klippe gegangen wäre.
Das war’s, dachte ich. Ich bremste sofort ab und funkte Johan an, um zu erfahren, ob Ullrich in Ordnung war.
Wie ich bremsten auch andere Fahrer ab. Kevin Livingston kam und hielt neben mir an. »Wir warten«, sagte ich zu den anderen Fahrern. »Wir alle warten auf ihn.«
Einen Moment später meldete sich Johan; er konnte Ullrich sehen, wie er sich gerade abmühte, den Hang zur Straße hinaufzuklettern, und dem Anschein nach war alles in Ordnung. Ullrich hatte Glück gehabt und war auf eine mit Gras bewachsene Böschung vor einer tiefen Rinne gestürzt. Inzwischen hatte er sein Rad wieder aufgerichtet und kletterte zurück zur Straße.
Ich behielt mein langsames Tempo bei und wartete, bis Ullrich wieder aufgeschlossen hatte, so, wie es die Tradition unter Radrennsportlern verlangt. Auch wenn das amerikanische Publikum ein solches Verhalten nicht unbedingt nachvollziehen kann, stellt es einen fundamentalen Bestandteil unseres Sports dar, und jeder andere Spitzenfahrer hätte sich gegenüber einem respektierten Gegner ebenso verhalten.
Und Ullrich hatte den Respekt des gesamten Pelotons verdient. Er war nie zusammengebrochen; er war zurückgefallen, ja, aber er hatte sich immer wieder an die Spitze der Meute gekämpft, und es gelang mir nie, ihm auf und davon zu fahren. Egal was, er war immer da, an meiner Seite, niemals gewillt, das Rennen aufzugeben. Wenn jemand deinen Respekt verdient hat, dann dein schärfster Rivale: Je besser dein Gegner ist,
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