Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jede Sekunde zählt (German Edition)

Jede Sekunde zählt (German Edition)

Titel: Jede Sekunde zählt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lance Armstrong , Sally Jenkins
Vom Netzwerk:
wiederholte er. »Hast du kapiert?«
    »Du wirst vollebak sehen, wie du noch nie vollebak gesehen hast«, versprach ich ihm.
    Ich kehrte zu Chechu zurück. Wir näherten uns dem Anstieg hinauf nach L’Alpe d’Huez. Ullrich lag immer noch vor uns. »Jetzt?«, drängte Chechu.
    »Jetzt«, sagte ich. »Und lass dir die Show nicht entgehen.«
    Wir schossen nach vorn. Die Masse der Zuschauer links und rechts der Straße schien sich zu teilen, als wir beschleunigten.
    Wir jagten über eine Brücke, passierten einen rauschenden Wasserfall, kamen um eine lange, weit gezogene Linkskurve – und erreichten den Fuß des Berges. Die Straße stieg an.
    Ullrich war jetzt direkt vor uns.
    Ich fuhr an ihn heran.
    »Armstrong hat heute vielleicht ein unglaubliches Pokerspiel gewagt, als er hinten herumhing und die anderen die Arbeit machen ließ«, kommentierte Sherwen aufgeregt.
    Mit Chechu direkt neben mir hängte ich mich an Ullrichs Hinterrad.
    Bis zu diesem Moment hatte Ullrich geglaubt, ich sei am Ende. Den ganzen Tag über hatte er immer wieder gehört, dass ich mich quälte und außer Form war. Und nun saß ich ihm direkt im Nacken.
    Ich zog an ihm vorbei.
    Ganz bewusst schaute ich über die Schulter nach hinten und starrte einen langen Augenblick in Ullrichs Sonnenbrille.
    In einem Rennen ist es wichtig, das Gesicht eines Gegners genau zu studieren: seinen Mund, wie er schwitzt, ob er hinter der Brille die Augen zusammenkneift. Der Gesichtsausdruck sagt einem alles: ob er müde ist oder frisch, wie viel er noch in sich hat. Ullrich, das war nicht zu übersehen, litt. Sein Ohrring baumelte, sein Trikot stand offen, ebenso sein Mund.
    Ich hielt den Blick noch einen Moment länger auf ihn gerichtet. Später meinten Leute, die die Szene mitverfolgt hatten, es hätte ausgesehen, als wollte ich Ullrich verspotten und zu ihm sagen: »Ich habe den ganzen Tag nur gespielt. Das eigentliche Rennen fängt erst jetzt an. Fang mich, wenn du kannst.« In Wahrheit aber wollte ich nur sehen, in welchem Zustand die Fahrer hinter Ullrich waren. Als ich mich zu Ullrich umdrehte, musterte ich nicht nur ihn. Was ich sah, überzeugte mich davon, mit meinem Antritt loszulegen.
    Ich wandte den Blick wieder nach vorn, ging aus dem Sattel und zog davon.
    Und weg war ich. Innerhalb von ein paar Sekunden war ich aus Ullrichs Blickfeld verschwunden. Es war eine Schocktaktik, absolut spontan, aber wirksam. Mit einem Spurt hatte ich mich gelöst, und Ullrich konnte nichts dagegensetzen.
    »Er fällt ab! Er fällt ab!«, brüllte Johan aufgeregt in mein Ohr.
    Ich baute den Vorsprung stetig aus und stieg hart in die Pedale. Eine Weile später kam der letzte Fahrer zwischen mir und der Ziellinie in Sicht, Laurent Roux, der den Anstieg mit einem Vorsprung von sieben Minuten angegangen war. Ich zog an ihm vorbei.
    Die Augen auf die Straße unmittelbar vor mir fixiert, sah ich nichts außer der nächsten Kehre. Ungefähr bei der Hälfte des Anstiegs passierte ich Chris Carmichael, der wie ein Idiot grinsend am Straßenrand stand. Mir fiel auf, das er ein Paar grell- blauer Schuhe von Oakley trug.
    Nach sechs Stunden und 23 Minuten überquerte ich die Ziellinie. Ich bleckte die Zähne und riss die Fäuste so hart in die Höhe, dass ich fast vom Rad gestürzt wäre.
    Ich bremste und sank völlig erschöpft vom Rad. Wir hatten eine der berühmtesten Tour-Etappen gewonnen, an einem Tag, an dem mir das niemand zugetraut hätte, und zwar mehr durch Taktik als durch Aggression. Es war ein eigenartiges Gefühl des Triumphs, eines, wie ich es bei keinem anderen Etappensieg empfunden hatte. Wir konnten, das war klar, diesen Trick kein zweites Mal anwenden – aber dieses eine Mal hatte er funktioniert.
    Später besuchte Carmichael mich im Teamhotel. »Du hast schon wieder diese unsäglich hässlichen Schuhe angehabt, stimmt’s?«, sagte ich zu ihm. »Ich hab’s genau gesehen. Chris, warum ziehst du diese Dinger an?«
    Ich wollte das Gelbe Trikot. Ich wollte es mir überstreifen und es meinem Sohn zeigen und ihn »Yo-yo, Daddy« sagen hören. Aber noch war es nicht so weit, noch fuhr ich hinterher; trotz der Demonstrationvon L’Alpe d’Huez hatte ich noch Rückstand auf den Führenden in der Gesamtwertung, Simon.
    Am nächsten Tag trafen Luke und Kik ein, gerade rechtzeitig, um mitanzusehen, wie ich das Bergzeitfahren auf der romantischen Etappe von Grenoble zum Wintersportort Chamrousse gewann. Dass ich, immer noch hinter Simon liegend, auf den dritten Platz

Weitere Kostenlose Bücher