Jede Sekunde zählt (German Edition)
umso besser musst du selbst sein.
Ullrich schloss zu mir auf. »Alles in Ordnung?«, fragte ich. Er nickte. »Mir geht’s gut.« Wir beschleunigten auf Renngeschwindigkeit und fuhren Schulter an Schulter, genau gleichauf, bis zur Sechs-Kilometer-Marke.
Den letzten Anstieg hinauf nach Pla d’Adet kannte ich gut: Ich hatte ihn im Frühjahr dreimal abgefahren und insbesondere die steilen Stellen aufmerksam studiert. An diesem Berg konnte man einiges an Zeit gegenüber den anderen Fahrern gutmachen, undan diesem Tag war ich in der Form dazu. Sosehr ich Ullrich bewunderte und sosehr ich mich freute, dass ihm nichts passiert war, jetzt wollte ich ihn loswerden. Ich wollte das Gelbe Trikot, und mit einem Etappensieg konnte ich es mir holen. »Yo-yo Daddy.«
Als wir den letzten Anstieg erreichten, stieg ich aus dem Sattel und griff an. Ullrich machte keinen wirklichen Versuch, mir zu folgen. Nach ein paar Sekunden hatte ich das Gefühl, 30 Meter vor ihm zu liegen. Hinter mir senkte Ullrich den Kopf und behielt sein Tempo bei.
Ich fuhr alleine weiter, und knapp einen Kilometer später überholte ich den letzten vor mir liegenden Fahrer, den Franzosen Laurent Jalabert. »Er ließ es so leicht aussehen, dass es schon wieder schön war«, meinte Jalabert nach dem Rennen.
Jalabert irrte sich. Es war alles andere als leicht. Es schmerzte, tief in mir, wo Muskeln und Knochen aneinander reiben. Ich kontrollierte meine Mimik und tat einfach so, als hätte ich keine Schmerzen. Mir ist klar, wie demoralisierend es für einen Fahrer sein muss, nach einem Tag wie diesem von einem Fahrer überholt zu werden, der noch nicht einmal zu leiden scheint. Auf diese Art physisch und mental besiegt zu werden, ist etwas, was niemand außer uns Fahrern kennt.
Natürlich litt ich. Wer genau hinsah, konnte in meinen blutunterlaufenen Augen erkennen, wie sehr ich litt. Die Wahrheit ist, so etwas wie müheloses Fahren gibt es bei der Tour nicht. Es schmerzte ganz einfach nicht so sehr, wie es das hätte tun können, weil das ganze Training, das ich das Jahr über absolviert hatte, nun Früchte trug. Ich war gut vorbereitet, ich wusste, welche Abschnitte in den Bergen die schwersten waren, und ich hatte gelernt, meine Kräfte einzuteilen, sie gleichmäßig einzusetzen und Einbrüche zu vermeiden.
Ich fuhr alleine über die Ziellinie und kippte vom Rad, völlig ausgepumpt. Aber ich war der neue Führer der Tour de France. Wir hatten uns an Johans Anweisung gehalten, hatten bei jederGelegenheit angegriffen – und hatten drei der letzten vier Etappen gewonnen. Wir hatten 35 Minuten Rückstand und 24 Plätze im Gesamtklassement aufgeholt. An nur zwei Tagen hatten wir 22 Minuten auf das Gelbe Trikot wettgemacht. Einen so großen Rückstand hatte bei der Tour zuvor noch nie jemand gutgemacht.
Johan, der im Begleitwagen herangefahren kam, war außer sich vor Freude. An diesem Tag hatte er einen Passagier im Wagen, Phil Knight, den Mitbegründer von Nike. Knight war bei so gut wie jedem großen Sportereignis und Zeuge zahlloser mitreißender Momente gewesen, aber er hatte noch nie eine Etappe der Tour de France miterlebt, und als er jetzt aus dem Wagen stieg, sah er aus, als hätte ihm all das die Sprache verschlagen: die Regenbogenfarben des vorbeirasenden Pelotons, die Stürze, die Fahrer, die sich wieder aufrappeln und zurück aufs Rad springen, die steilen Anstiege unter der sengenden Sonne. Ich sah sein Gesicht und wusste, dass wir einen weiteren Radsportbegeisterten gewonnen hatten. »Das ist der größte Tag im Sport, den ich jemals miterleben durfte«, schwärmte er.
Endlich durfte ich mir das Gelbe Trikot überstreifen, maßlos erleichtert, doch noch dieses Stück Stoff anziehen zu dürfen, dem ich so wild entschlossen nachgejagt war.
Ullrich gab nicht auf. Die ganzen Pyrenäen hindurch fochten wir unsere epische Schlacht aus, bis uns in der Gluthitze der Berge der Schweiß vom Kinn troff. Auf der letzten Bergetappe, nachdem wir den 2114 Meter hohen Col du Tourmalet bezwungen hatten, entwischte mir Ullrich knapp vor dem Ziel und kam hinter Roberto Laiseka und Wladimir Belli auf den dritten Platz. Unmittelbar hinter der Ziellinie streckte er eine Hand nach hinten aus und hielt sie mir hin. Ich ergriff sie.
Mir war nicht ganz klar, was er mir damit sagen wollte, aber ich vermute, dass es etwas mit Kameradschaft zu tun hatte. Wir hatten im Sattel viel zusammen durchgemacht. Vielleicht wollte er mir damit auch gratulieren; immerhin gestand er
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