Jede Sekunde zählt (German Edition)
mir nach dieser Etappe den Gesamtsieg zu. Ich hatte einen Vorsprung vonfünf Minuten, der jetzt sicher schien – alles, was ich noch tun musste, war, bis Paris im Sattel zu bleiben.
»Es ist entschieden«, erklärte Ullrich. »Ich hatte dieses Jahr keine Chance gegen Lance. Ich glaube nicht, dass ich Fehler gemacht habe. Immerhin habe ich alle anderen hinter mir gelassen.«
Der Sieg war mir sicher, aber es gab noch eine letzte Sache, die getan werden musste, bevor ich in Paris auf das Siegerpodest stieg: mich zu den Dopingverdächtigungen äußern. Die Vorwürfe hatten mich seit Monaten verfolgt, und sie hatten auch während der Tour nicht nachgelassen. In L’Équipe war unter der Schlagzeile MÜSSEN WIR AN ARMSTRONG GLAUBEN? unter anderem Folgendes zu lesen gewesen: »Es gibt einfach zu viele Gerüchte, zu viele Verdächtigungen. Armstrong evoziert sowohl Bewunderung als auch Ablehnung.« Bei der Tour war ich von manchen französischen Zuschauern ausgebuht worden.
Die Tradition will es, dass der Träger des Gelben Trikots vor der Ankunft in Paris eine Pressekonferenz gibt, und ich sehnte diese Pressekonferenz herbei. Ich wollte mich den Skeptikern und Anklägern stellen, ihnen in die Augen blicken. Ich wollte mich den Anschuldigungen stellen. Vor allem aber wollte ich meine Unschuld beteuern.
Rund 300 Journalisten kamen zu der Pressekonferenz, und über eine Stunde lang ging ich auf jeden Vorwurf ein, den sie mir an den Kopf warfen.
»Ich habe mich immer an die Regeln gehalten«, erklärte ich. Ich wies darauf hin, dass ich bei den letzten Tour-Durchgängen nicht weniger als 30-mal getestet worden und nicht eine Probe positiv gewesen war. »Die Beweise sind da«, antwortete ich auf die Frage eines Journalisten. »Sie wollen sie einfach nicht anerkennen.«
Nach all dem, was ich durchgemacht hatte, fügte ich hinzu, wäre ich verrückt, eine Substanz wie Epo oder menschliche Wachstumshormone zu mir zu nehmen.
»Ich gebe alles, was ich habe«, erklärte ich. Was ich erreicht hatte, verdankte ich harter Arbeit, der Tatsache, dass ich trainiertund mich aufs Rad gesetzt hatte, wenn niemand sonst das tat, außerhalb der Saison und bei jedem Wetter. Ich hatte in den Alpen trainiert, als dort Schnee lag. »Und ich habe dort«, sagte ich, »keinen einzigen anderen Radprofi getroffen.«
Die Unschuldigen, gab ich zu bedenken, können ihre Unschuld niemals beweisen. Wie soll man beweisen, dass man etwas nicht ist?
Ein anderer Journalist erhob sich und fragte mich nach einem italienischen Arzt namens Michele Ferrari, gegen den in Sachen Doping ermittelt wurde und der 1994 einen unglücklichen und unbedachten Kommentar vom Stapel gelassen und erklärt hatte, Epo sei »nicht schädlicher als Orangensaft«. Im Zuge der Ermittlungen waren nun seine Akten beschlagnahmt wurden, in denen sich unter anderem ein Hinweis auf mich gefunden hatte. Jetzt galt manchen meine Verbindung zu Ferrari als weiterer Beleg dafür, dass ich gedopt war.
Ich kannte Michele Ferrari gut, sagte ich, er war ein Freund, und ab und zu bat ich ihn um Ratschläge für mein Training. Er gehörte nicht zu meinen engen Beratern, aber er war einer der klügsten Köpfe im Radsport, und deshalb suchte ich gelegentlich seinen Rat. Ferrari hatte mir Tipps für das Höhentraining und für meine Ernährung gegeben. (Tatsache ist, dass Ferrari, egal, was man sonst über ihn denken mag, ein herausragender Experte auf seinem Gebiet ist. Wie sonst kaum jemand versteht er die Wechselwirkungen zwischen Technik und Physiologie und kann mit fachlicher Autorität über alles von Kettengliedern bis Wattzahlen diskutieren. Er besitzt ein enormes Wissen, und das schätzte ich.)
Ich weigerte mich, mich von Michele zu distanzieren oder gar dafür zu entschuldigen, dass ich ihn kannte. Meines Wissens lag nichts gegen ihn vor. Die Vorwürfe gegen ihn basierten auf dem Umstand, dass er einige Jahre zuvor einen Radprofi namens Filippo Simeoni behandelt hatte, der später des Dopings überführt wurde. »Michele ist unschuldig, bis ein Gericht etwas anderes feststellt«, erklärte ich.
Der Journalist wollte wissen, wie ich meine Antidopinghaltung damit vereinbaren könne, meine Freundschaft zu Ferrari aufrechtzuerhalten. »Das ist meine Entscheidung«, gab ich zurück. »Ich glaube, dass er aufrichtig, fair und unschuldig ist. Warten wir ab, ob es zu einer Verhandlung kommt. Wie kann ich mich nach dem, was ich mit eigenen Augen gesehen habe und was ich weiß, gegen jemanden
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