Jede Sekunde zählt (German Edition)
US-Fernsehen kommentierte, sagte beispielsweise: »Armstrong sieht aus, als stecke er in echten Schwierigkeiten.«
Ich hing am Ende des Hauptfelds herum, dort, wo die schwächeren Fahrer sich mühten, das Tempo zu halten. Wer immer in den Bergen am Ende des Pelotons fährt, hat einen langen Tag vor sich. »Wir haben Lance Armstrong bislang nicht einmal in der Spitze dieser Gruppe gesehen«, sorgte sich Sherwen. »Er hat einen schweren Tag.«
Ullrich und das Team Telekom schluckten den Köder – sie setzten sich an die Spitze und legten ein hohes Tempo vor. Ganz offensichtlich hatten sie die Nachricht erhalten, dass ich litt. Sie reagierten genau so, wie Johan es vorhergesagt hatte. Jetzt machten sie vorne die ganze Arbeit, während wir uns hinten mitziehen ließen.
Die nächsten paar Stunden führte Telekom das Peloton an. Sie kurbelten wie die Weltmeister, zuerst den Madeleine hinauf und hinunter, dann den Col du Glandon, Kilometer um Kilometer. Ich unterdessen tat mein Bestes, schlecht auszusehen. Ich setzte immer wieder die Wasserflasche an die Lippen und ließ den Kopfhängen, während mein Brustkorb sich mit jeder Pedalumdrehung schwer hob und senkte.
Irgendwann zwischendrin ließ sich mein Teamkollege José Luis »Chechu« Rubiera zum Begleitwagen zurückfallen, um Wasser für mich zu holen. Johan reichte ihm durch das Fenster einige Flaschen, ein Vorgang, den Sherwen folgendermaßen kommentierte: »Wie es aussieht, hat Armstrong hier ein echtes Problem... Armstrong muss heute ganz offenkundig unglaublich viel Flüssigkeit zu sich nehmen.«
Wie es mir denn wirklich ginge, wollte Johan von Chechu wissen. »Mann, er fliegt«, sagte Chechu. »Ihm geht’s einfach prächtig.«
Ein Fernsehreporter ließ sich auf einem Motorrad zu Johans Begleitwagen fahren, um ihn durchs Fenster hindurch zu interviewen. Johan wusste, dass, was immer er auch sagte, die anderen Teams es mithörten.
»Ich habe keine Ahnung, was los ist«, log Johan. »Das ist nicht normal für Lance. Ich habe ihn noch nie so erlebt, und der Rest des Teams scheint auch nicht in Form zu sein. Im Moment versuchen wir einfach dranzubleiben.«
Vorne an der Spitze legte Telekom noch einen Zahn zu. So langsam ging die Anstrengung allen Fahrern in die Beine. Die grasgrünen Berghänge wurden immer steiler. Die Straße verengte sich, die Steilwände drängten sich immer näher an uns heran, und wenn man um eine Ecke fuhr, konnte man in der Ferne Gletscher leuchten sehen.
Die Fernsehkommentatoren ließen sich dankenswerterweise weiter über meine scheinbar schwache Form aus. »Armstrong liegt ein ganzes Stück zurück, er sieht heute überhaupt nicht gut aus und sollte nicht so weit hinten in der Gruppe fahren. Ganz offensichtlich hat er einen schlimmen Tag erwischt.«
Wir hatten den Gipfel des zweiten großen Anstiegs erreicht, den Col du Glandon, vor uns die schönste Abfahrt der gesamten Tour, an einem Stausee vorbei hinein in ein sanftes, sattgrünesTal, hinter dem sich in der Ferne zerklüftete Schneegipfel türmten.
»Sollten wir uns nicht langsam vorarbeiten?«, fragte Chechu. »Warte noch«, gab ich zurück, und fügte auf Spanisch hinzu: »Miramos, esperamos, decidimos, atacamos. «
Lass uns warten, lass uns sehen, lass uns entscheiden, und dann lass uns angreifen.
Aber bei der Abfahrt vom Glandon hinunter schlich ich mich auf den 12. Platz vor. Wir jagten an einem See vorbei und weiter entlang einer gewaltigen Granitwand. Der ständige rapide Temperaturwechsel – in den Tälern war es heiß, auf den Gipfeln kalt – machte uns langsam zu schaffen, und unsere Muskeln neigten zu Krämpfen.
An der Spitze, über sieben Minuten vor mir, lag zu diesem Zeitpunkt ein Franzose, Laurent Roux, gefolgt von Ullrich.
»Nur ein bisschen?«, drängte Chechu. »Sollten wir nicht zumindest ein bisschen aufholen?«
»Chechu«, sagte ich. »Miramos, esperamos, decidimos, atacamos. «
Neben mir tauchte Johan im Begleitwagen auf, den Kopf aus dem Fenster gestreckt. Ich fuhr dicht neben dem Wagen, um zu hören, was er mir zu sagen hatte. Im Laufe der Jahre hatte ich ein wenig Flämisch von Johan aufgeschnappt, und als wir jetzt die Köpfe zusammensteckten, sprachen wir halb Englisch, halb Flämisch.
»Okay, das sieht hervorragend aus«, sagte er. »Alles läuft wie am Schnürchen. Wenn wir den Fuß von L’Alpe d’Huez erreichen, greifst du an. Und wenn du angreifst, dann vollebak.«
» Vollebak« heißt »Vollgas«. Voll durchtreten.
» Vollebak«,
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