Jede Sekunde zählt (German Edition)
mitten auf einer belebten Straße in Downtown New York, um uns herum überall Fußgänger und Autos, aber das kümmerte ihn nicht. Wie besessen trat er in die Pedale, ich hinter ihm her. Um eine Ecke ging die Jagd, und noch um eine, und da tauchte vor uns schon wieder die Feuerwache auf. Er schlug mich um Längen. Seine Kollegen stimmten ein Siegesgeheul an, hieben ihm auf den Rücken, und er stand da mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
Ich blieb noch eine halbe Stunde, bevor wir uns verabschiedetenund wir uns auf den Weg zur nächsten Feuerwache machten.
Insgesamt waren es zehn. Wohin wir auch kamen, es war überall das Gleiche, und irgendwann sagte ich zu Bart: »Am liebsten würde ich das den ganzen Tag lang machen.« In jeder Feuerwache gab es eine Art Kantinenküche mit langen Tischen, an denen Feuerwehrmänner und verzweifelte Verwandte von Vermissten saßen. Die auf Kreidetafeln geschriebenen Einsatzpläne datierten immer noch auf 9/11, und die Namen der Männer, die Dienst gehabt hatten, standen immer noch da. Ich habe keine Ahnung, ob sie inzwischen geändert worden sind. Außen waren die Feuerwachen geschmückt mit Gedenktafeln und Blumen, und vor jeder Wache standen Menschen, die den Feuerwehrleuten dankten oder einfach schauten, schweigend und ehrfürchtig, so als wären sie in einem Museum.
Manche Menschen glauben, Heldentum sei ein Reflex, ein Kniezucken angesichts einer tödlichen Bedrohung. Manche sagen, Heldentum sei der Wunsch, einen Beitrag zu leisten, von Nutzen zu sein. Dann gibt es noch das stillere Heldentum, das »Jeden Tag zur Arbeit gehen und einen Lebensunterhalt für seine Familie verdienen«, das der New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani all jenen zubilligte, die in diesen Gebäuden ihr Leben gelassen hatten. Nach diesem Tag kam ich zu dem Schluss, dass Heldentum eine Mischung von allem drei war und dass, was immer es auch sein mochte, diese Jungs jede Menge davon hatten.
Für den späten Nachmittag hatte Giuliani mich eingeladen. Ich wurde in eine Art Befehlszentrale geführt. Als Giuliani mich sah, erhob er sich und umarmte mich. Auf seinem Schreibtisch lag, aufgeschlagen und umgedreht, eine Biografie von Abraham Lincoln. Giuliani war erschöpft und zutiefst mitgenommen, aber absolut Herr der Lage, in dem Moment ganz offensichtlich der richtige Mann am richtigen Ort. Dann wandte der Bürgermeister sich zu einem anderen in dem Raum stehenden Mann um und stellteihn mir vor: Bill Clinton. Ob ich, fragte Giuliani, Zeit hätte, sie auf einem Helikopterflug über Ground Zero zu begleiten?
Der gesamte untere Teil von Lower Manhattan sah aus wie ein Schrottplatz. Überall lagen geborstene Metallteile herum; Trümmerteile waren bis auf die Dächer benachbarter Häuser geschleudert worden. Keine Kamera konnte die 360°-Perspektive wiedergeben, die ich vor mir hatte, das schiere Ausmaß der Verheerung. Die Metalltrümmer und Glassplitter reflektierten das Sonnenlicht, und weiter vorne, im Herzen von Ground Zero, öffnete sich der Blick in das Inferno, auf einen zerklüfteten, schwelenden, fast schon surrealen Trümmerberg. In einigen benachbarten Gebäuden klafften gewaltige Furchen, so als hätte ein Riese die Finger durch sie hindurchgezogen. Aus einem der Häuser ragte ein bestimmt 20 Meter langer Stahlträger heraus, als hätte jemand mit dem Träger Speerwerfen geübt.
Nach dem Rundflug besuchte ich eine Ruhezone, wo die Rettungsleute in einem riesigen Lagerhaus in Schichten auf Feldbetten schliefen. Ich setzte mich zu ihnen, sprach mit ihnen und hörte mir ihre Geschichten an. Sie waren aus dem ganzen Land nach New York gekommen, manche sogar aus Texas, Kalifornien und Ohio, um einen furchtbaren Job zu machen. Sie waren erschöpft und am Boden zerstört, und doch arbeiteten sie rund um die Uhr. Vor allem aber waren sie eins: wütend. Die New York Post hatte einer Ausgabe ein großformatiges Poster von Osama Bin Laden mit der Bildunterschrift WANTED DEAD OR ALIVE beigelegt, und dieses Plakat hing überall in dem Gebäude. Das war der Moment, in dem ich verstand, dass wir uns im Krieg befanden.
Die Bergungsarbeiten stellten übermenschliche Anforderungen, und sie veränderten meine Ansicht darüber, was echte Arbeit ist. Alles lag in Trümmern, und die einzigen Leute, die wussten, was zu tun war, waren Männer, die einen Presslufthammer bedienen oder eine Planierraupe fahren konnten, oder die Schweißer und Baggerfahrer und Zimmerleute, die eine Arbeit machen, vonder viele
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