Jede Sekunde zählt (German Edition)
düster erschien. Auf dem Flughafen wurden wir von einem Freund von Nike, Dave Migny, und Vertretern des Roten Kreuzes in Empfang genommen. Zusammen hatten sie meine Tour durch die Stadt organisiert.
Wir fuhren direkt zu einem Gebäude an einem Pier am Hudson River, das in ein provisorisches Kommandozentrum umfunktioniert worden war. Die Szenerie erinnerte mich an die Empfangshalle eines großen Konferenzzentrums. Hunderte von Menschen, von der Feuerwehr über die Küstenwache und die Gewerkschaft der Stahlarbeiter bis hin zum FBI, rannten in einem Zustand des organisierten Chaos hin und her und bemühten sich, die Rettungs- und Aufräumarbeiten zu koordinieren.
Ich sprach mit einigen Leuten vom Roten Kreuz und starrte eine Wand voller Fotografien an: Überall hingen Bilder von Vermissten: Freunden, Verwandten, Ehemännern, Söhnen, Kusinen. Bitte ruf an. Etwas Vergleichbares hatte ich noch nie gesehen. Aufeinem Flugblatt war ein Foto von vier Kindern. Darauf stand mit Wachsmalstiften geschrieben: Daddy, bitte komm heim, wir vermissen dich. Ich war nicht darauf gefasst, so etwas zu sehen – und ich will so etwas auch nie wieder sehen.
Was mich aber am meisten berührte, war das Wunschdenken, die Sehnsucht, die in allem spürbar war. Inmitten der ganzen Zerstörung waren die Menschen vereint in einer Art Verleugnung der Realität, in der verzweifelten Hoffnung, dass die Türe aufgehen und ihr Mann, ihre Frau oder ihre Tochter hereinkommen würde. Angesichts der furchtbaren Frage – Wenn sie nicht zu Hause sind und nicht im Krankenhaus, wo sind sie dann? – zogen es die Menschen vor, das Schlimmste zu verdrängen und auf das Beste zu hoffen.
Früh am nächsten Morgen, einem Samstag, nahm uns ein Vertreter des Roten Kreuzes auf eine Tour durch die Feuerwachen von New York mit. Wir starteten auf der Lower East Side in Manhattan, und als wir auf die erste Feuerwache zugingen, kam ich mir vor wie ein Idiot. Ich war ein nicht angekündigter Besucher. Vielleicht wollten die Feuerwehrmänner überhaupt keine Besucher, vielleicht hatten sie schon genug Besucher gesehen. Vor dem Gebäude drängten sich viele Menschen, sie brachten Essen und Geschenke, stellten Kerzen auf und hinterließen Wandmalereien. Ich hatte Angst, dass sie, wenn ich auf sie zuging, sagen würden: »Was zur Hölle hast du hier verloren? Verschwinde!«
Ich betrat die Feuerwache Bowery Station 33, die elf Männer ihrer Einheit verloren hatte. Einen Moment stand ich da und wusste nicht, was tun. Einer der Feuerwehrmänner erkannte mich und sagte: »Fucking Lance Armstrong«, wie ein echter New Yorker eben, und dann umarmte er mich und fing an zu heulen. Ein paar andere kamen näher. Wir gaben uns die Hände. »Niemand hat uns mitgeteilt, dass du kommst«, sagten sie.
Einer drehte sich um und rief nach einem Kerl, der in der Küche saß. Er kam heraus und schüttelte mir die Hand. Ich sah gleich, dass etwas ihn schwer mitgenommen haben musste, vielleicht der Verlust eines Freundes, oder er hatte Furchtbares gesehen,vielleicht auch beides. Wir unterhielten uns ein bisschen darüber, was passiert war, was sie gesehen hatten, und sie erzählten mir von dem Gestank und der Hitze und den Leichenteilen, die überall herumgelegen hatten.
Er erwies sich als ein echter Fahrradverrückter, und einer seiner Kollegen meinte, wir beide sollten uns ein Rennen liefern. Wie sich herausstellte, hatten sie auf jeder Feuerwache ein paar Fahrräder, alte Böcke, die sie für kleine Erledigungen benutzten. Die Feuerwehrmänner verbrachten viel Zeit in der Küche der Wache, kochten und aßen zusammen, und wann immer sie noch etwas brauchten, schnappte sich einer ein Fahrrad und radelte hinunter zum nächsten Laden, warf die Sachen in den Lenkerkorb und strampelte zurück.
Jemand gab mir ein Fahrrad mit großen, dicken Reifen. Ich lachte und stieg auf. Mein Gegenüber schnappte sich auch ein Rad und fing an, auf der Straße vor der Wache hin und her zu fahren. Er war ganz wild auf ein Wettrennen. »Los, komm«, schrie er in einem fort. »Sieh ihn dir an«, sagte einer seiner Freunde zu mir. »Er macht echt was durch. Wir alle machen hier was durch, aber ihn hat’s wirklich hart erwischt.«
Mein Freund der Feuerwehrmann raste wild strampelnd den Block hinunter. Es schien ihm ernst zu sein. Für ihn war es wohl eine willkommene Flucht, für kurze Zeit alles vergessen und auf diesem Rad die Straße hinunterjagen zu können. So fuhr ich ihm hinterher.
Wir befanden uns
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