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Jede Sekunde zählt (German Edition)

Jede Sekunde zählt (German Edition)

Titel: Jede Sekunde zählt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lance Armstrong , Sally Jenkins
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Menschen nichts mehr wissen. Und ihre Arbeit war gefährlich. Wann immer sie schwelende Trümmer hochzogen, stürzten andere Trümmerteile herunter oder entzündeten sich. Glasscherben regneten auf sie herab, und auf den qualmenden Schrotthaufen schmolzen ihnen im wahrsten Sinne des Wortes die Sohlen ihrer Stiefel. Aber sie gruben weiter, zuerst, um Menschen zu finden, die noch am Leben waren, dann, um überhaupt jemanden zu finden.
    Die Plakate hingen an Kiosken und Restaurantfenstern, an Maschendrahtzäunen und Betonwänden. New Yorker weinten in den Taxis, den U-Bahnen, manchmal standen sie sogar mitten auf der Straße und weinten. Jeden Tag zogen die Rettungs- und Aufräumarbeiter ein weiteres riesiges Stück Metall aus den Trümmerbergen heraus, und kam Sauerstoff an die Brandherde, dann quoll eine neue Rauchwolke in den Himmel. Und alle spürten die Verheerung in ihren eigenen Herzen, eine, wie es schien, unstillbare Blutung im Innern.
    Als Letztes besuchte ich den Union Square, wo ich die Mahnwache beobachtete, die zahllose Kerzen angezündet hatte, und hörte eine Weile den Friedensdemonstranten zu. Ich respektierte ihre Haltung, aber ich hatte zu viel Zerstörung gesehen. Ich wollte sagen: »Mein Freund, scheiß auf den Frieden.« Mir fiel es schwer, maßvoll zu urteilen, ich hatte kaum etwas anderes als mitleidlose, unbarmherzige, rachsüchtige und ganz und gar unchristliche Gefühle. Man brauchte nur an eine Wand oder einen Zaun zu treten und sich die Bilder der Vermissten anzusehen oder hinunter zum Ground Zero zu gehen und den Geruch dort einzuatmen. Mir fiel es schwer zu glauben, dass hier Gott in der Luft lag. Der Tod lag in der Luft – was wir rochen, war Rauch und Tod.
    Aber auch das Gute war hier, das wirklich Gute, in der alltäglichen selbstlosen Arbeit der vielen Freiwilligen. Zwischen zu Staub zermalmtem Beton und verdrehtem Stahl fand ein Rettungsarbeiter das Spielzeug eines Kindes, völlig unversehrt. Ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte – oder mit der Tatsache,dass die Männer, die zwei Flugzeuge in diese Gebäude steuerten, dabei gebetet hatten.
    Einer der interessanteren Aspekte des Todes ist, dass man ihn verleugnen kann. Als ob das menschliche Leben die eingebaute Fähigkeit hätte, die Auslöschung der eigenen Existenz zu ignorieren. Dass wir etwas vollkommen Unabwendbares verleugnen können, ist mir ein Rätsel. Aber wir tun es, vielleicht weil wir sonst nicht von Tag zu Tag ein tätiges Leben führen könnten. Vielleicht wären wir sonst so entsetzt darüber, wie kurz jede Sekunde ist, dass wir niemals arbeiten und alle gemeinsam nach Tahiti ziehen würden.
    Mir war diese Fähigkeit, den Tod zu verleugnen, genommen worden, und dasselbe galt für die Menschen in New York. Mit ihnen zu sprechen war wie mit jemandem zu sprechen, der gerade erfahren hat, dass er Krebs hat. Ich wusste, was da in einem vorging in der Erwartung einer gefürchteten Diagnose und was es hieß, zu einem neuen, harten Blick auf die Realität gezwungen zu werden. Es erinnerte mich daran, dass Überleben ein Prozess ist, dass man lernen muss, alle möglichen Dinge zu überleben, nicht nur die eigene Krankheit.
    Kompliziert wurden diese seltsamen Empfindungen noch durch die Tatsache, dass der fünfte Jahrestag meiner Krebsdiagnose vor der Tür stand und der Zeitpunkt, zu dem die Zwillinge auf die Welt kommen sollten, immer näher rückte. Zuvor hatte ich gedacht, der fünfte Jahrestag der Diagnose würde eine Art Dammbruch sein. Der Tag, an dem meine Ärzte mir sagen würden: »Okay, Lance. Falls noch etwas sein sollte, melden Sie sich.« Nun war ich ausgefüllt von dem Schrecken, der New York überfallen hatte, und von der bevorstehenden Geburt der Zwillinge. Wieder einmal kam es nur auf die Perspektive an: Steuern, Skandale, Gerüchte, Kopfschmerzen, Verkehrsstaus. Es ging nur darum, das Unwichtige vom Wichtigen zu trennen.
    Als ich schließlich zur Fünfjahresuntersuchung kam, war esweniger, als ich erwartete hatte, fast eine Enttäuschung. Kik, die inzwischen im siebten Monat schwanger war, blieb zu Hause. Stattdessen begleitete mich Bill Stapleton nach Oregon, und wir verbanden den Trip mit einem Geschäftstermin in der Zentrale von Nike. Und so trat ich eines Morgens im Herbst 2001 in der Oregon Health Sciences University in Portland zu meinem letzten Krebs-Checkup vor Jack Nichols.
    Ich krümmte mich in meinem Sitz in der American-Airlines-Maschine, brütend und krank und immer kränker. Die

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