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Jede Sekunde zählt (German Edition)

Jede Sekunde zählt (German Edition)

Titel: Jede Sekunde zählt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lance Armstrong , Sally Jenkins
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Werte fielen nicht. Die Crew auf dem Flug kannte mich inzwischen. Ich war der Glatzkopf ohne Augenbrauen und Wimpern, und meine Haut wirkte wie Pergament. Der Typ, der wie der Tod aussah – und sich genauso fühlte.
    Ein Steward kam den Gang herunter.
    »Wie geht’s?«, fragte er.
    »Wissen Sie was?«, sagte ich. »Es geht mir nicht gut. Es geht mir gar nicht gut.«
    Auch wenn ich auf dem Weg zu meiner letzten Krebsuntersuchung war, bedeutete das nicht das Ende der Krankheit für mich. Der Krebs, dessen war ich mir sicherer als jemals zuvor, würde mich nie mehr loslassen, soll heißen, der Krebs anderer Menschen. Er war da in Gestalt von Freunden, die an ihm erkrankt, an ihm gestorben waren, im Verlust meiner Freundin Stacy Pounds, in dem meines ersten richtigen Freundes und Förderers in Austin, J. T. Neal, in dem eines kleinen Jungen namens Billy Rutledge und der kleinen Kelly Davidson, die ich so bewundert hatte.
    Kelly war gerade einmal in der dritten Klasse, als sie an einem Neuroblastom erkrankte. Wir lernten uns während der Remission kennen, kahlköpfig und voller Angst. Beide hatten wir körperliche Betätigung nötig, und beide hatten wir ein vorlautes Mundwerk. Ich wurde gesund, sie nicht. Der Krebs geriet bei ihr immer mehr außer Kontrolle, aber sie gab nicht auf.
    Ich schenkte ihr ein Fahrrad und Rollerblades, und gemeinsam fuhren wir um die Häuser. Im Sattel war sie unermüdlich. Sie war die Einzige, die mir sagen durfte, was ich tun sollte. »Kommst duauf eine Radtour vorbei?«, fragte ich sie eines Tages. »Ja, und danach gehen wir fischen«, sagte sie.
    Aber ihr Krebs breitete sich aus. Sie wurde an den Nieren operiert, und dann wurde aus ihrem Unterleib ein Tumor entfernt.
    »Du musst kämpfen«, sagte ich zu ihr. »Er hat dich nicht besiegt, er kann dich nicht besiegen. Ich lasse mich nicht treten, ohne zurückzutreten.«
    Das kleine Mädchen, bei dem die Ärzte und Krankenschwestern immer aufpassen mussten, dass es ihnen nicht auf den Rollerblades entwischte, wurde zusehends schwächer und brauchte einen Rollstuhl. Bald darauf fing Kelly an, ihr Hörvermögen zu verlieren. Zuerst war es eine Frage von Wochen, dann eine von Tagen. Sie kam in ein Hospiz, und danach ging es rapide bergab mit ihr.
    Kurz vor Beginn der Tour 2000 rief ich sie aus Europa an. »Kann ich etwas für dich tun?«, fragte ich.
    »Ja, fahr für mich in Gelb«, hatte sie geantwortet.
    Kelly starb im August 2000. Kik und ich hatten versucht, unsere Trauer zu verdrängen, versucht, ihr die richtigen Dinge zu sagen und so gut für sie da zu sein, wie es uns möglich war, sie wissen zu lassen, wie sehr sie uns am Herzen lag. Aber als wir sie verloren, fühlen wir uns hilflos und leer.
    Wir waren in Europa, als sie starb, und konnten nicht nach Hause fliegen. Meine Mutter ging an unserer Stelle zu Kellys Beerdigung und las einen Brief von uns vor. Für den Moment blieb Kik und mir keine andere Wahl, als unseren Gram zu vergraben, ihn tief unten im dunklen Keller des Vergessens wegzuschließen.
    Nach unserer Rückkehr nach Texas besuchten wir Kellys Familie, aber ich fand einfach nicht die richtigen Worte. Ich bewunderte ihre Stärke. Kellys Mutter Jamie fing an, in der medizinischen Forschung zu arbeiten, und zusammen mit ihrem Mann gründete sie eine nach ihrer Tochter benannte Stiftung für Kinder mit Krebs. Eines Tages ging Kik mit Jamie zu Kellys Grab. Ich brachte es nicht übers Herz, sie zu begleiten. Kik beschrieb mirhinterher das Grab: ein wunderschönes Grab unter einem Schatten spendenden Baum, auf dem Leute Blumen und kleine Geschenke für sie abgelegt hatten. Auch Luke und Kik legten ein paar Blumen auf das Grab – gelbe, damit sie wusste, von wem sie waren.
    Es war nicht meine Entscheidung, in die Gemeinschaft der Krebskranken hineingeworfen zu werden. Ich habe, aus welchen Gründen auch immer, überlebt, ungezählte andere haben das nicht. Prüfungen auf dem Fahrrad sind nichts im Vergleich zu dieser Art Prüfung, wenn jemandem, den du liebst, etwas passiert, und du ein stärkerer Mensch sein musst, als du es vermagst. In solchen Momenten bleibt einem nur, hart gegen sich selbst zu sein. Woran man nichts ändern kann, sind der Kummer und das Leid, die da draußen auf uns warten, irgendwo und irgendwann.
    Am Tag meiner letzten Krebsuntersuchung stand ich früh auf und trank das Barium, das als Kontrastmittel für die Röntgenaufnahmen und CT-Scans diente. Dann ging ich hinüber zum Medical Center. Bill und Scott

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