Jede Sekunde zählt (German Edition)
MacEachern von Nike begleiteten mich. Sie tranken Kaffee aus Plastikbechern und unterhielten sich, während ich ein Krankenhaushemd überzog, meinen Brustkorb röntgen ließ und mein Unterleib einem CT-Scan unterzogen wurde. Dr. Nichols überwachte die Geräteanzeigen, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung war, während Scott und Bill die ganze Zeit über dasaßen und Kaffee tranken. Anschließend musste ich Blut abgeben, das auf Tumormarker hin untersucht wurde.
Die Tests waren nicht schlimm, nur lästig, und sie dauerten auch nur rund eineinhalb Stunden. Einfach ein Kästchen, hinter das ich ein Häkchen setzte, ein letzter Punkt auf einer langen Liste von Punkten. Aber es erinnerte mich an das, was ich fünf Jahre zuvor durchgemacht hatte: die Tage, an denen ich 16 bis 20 Stunden geschlafen hatte, die Pillen, das Logbuch, in dem ich festhielt, was ich wann einnahm. All die Dinge, die ich getan hatte, um der Krankheit eine Nasenlänge voraus zu sein, mich zu informieren,wild entschlossen, nicht hilflos mit anzusehen, wie meine Gesundheit vor die Hunde ging. Und es erinnerte mich daran, was meine kranken Freunde jeden Tag auf sich nehmen mussten.
Schließlich, nach einer kurzen äußerlichen Untersuchung, die Dr. Nichols, wie es seine Art war, sehr sachlich durchführte, war er fertig und bat mich, Platz zu nehmen.
»Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie jemals wieder Probleme mit dieser Sache haben werden, ist praktisch null«, erklärte er. »Sie müssen die Krankheit aus Ihrem Kopf streichen, zumindest was Ihren eigenen Krebs angeht.«
Ich gab ihm die Hand. Und das war er, der große Moment. Ich klatschte meine Freunde ab und verließ die Klinik, zum letzten Mal, wie ich hoffe. Ich rief Kik an und sagte: »Alles erledigt.« Mit einem Grinsen im Gesicht hörte ich zu, wie sie schrie und lachte und gar nicht mehr aufhören wollte.
Nach der Rückkehr nach Austin feierten wir den Anlass mit einer Party. Wir hatten rund 100 Freunde und Verwandte auf das Grundstück in den Bergen oberhalb von Austin eingeladen, wo unser zukünftiges Haus stehen sollte. Das mit Zedern und Gebüsch bewachsene Grundstück – ich hatte es inzwischen auf den Namen Milagro, also Wunder, getauft – lag an einem sanften Abhang. Ich hatte einen großen Teil des Gebüschs selbst gerodet und ein kleines Häuschen errichten lassen. Für die Kinder hatte ich eine weitläufige, leicht abfallende Rasenfläche angelegt, dann hatte ich noch eine Feuerstelle gebaut und einen Feldweg anlegen lassen.
Für das Fest hatten wir Girlanden mit bunten Lichtern aufgehängt und eine Bühne für meinen Freund Lyle Lovett aufgebaut. Die Leute breiteten Decken auf dem Rasen aus, tranken Margaritas, bedienten sich an dem Büfett mit mexikanischem Essen oder saßen einfach herum und hörten Lyle zu, der auf der Bühne spielte und bald schon Unterstützung von Shawn (Sunny) Colvin erhielt, einem weiteren guten Freund. Später am Abend erhob ich mich. Mit Kik, die neben mir stand, bedankte ich mich bei allen,dass sie gekommen waren, und ich wies darauf hin, wie angemessen es war, dass wir das Grundstück auf den Namen Milagro getauft hatten, denn als genau das erschien mir das alles: als ein Wunder. Es hatte eine Zeit gegeben, sagte ich, in der ich nicht wusste, ob ich weiterleben würde. Und nun fühlte es sich fast trügerisch an, dass mir meine Gesundheit und ein ganzes Leben zurückgegeben worden waren, dass ich einen gesunden Sohn wie Luke hatte, zwei Mädchen, die bald schon in unser Leben treten würden, und dass ich gelernt hatte, die Dinge mit anderen Augen zu sehen.
Dennoch, dieser fünfte Jahrestag bedeutete nicht, dass es wirklich zu Ende war. Meine Geschichte gab Menschen Mut, die mit aller Kraft gegen den Krebs kämpften. Aber was, fuhr ich fort, war mit den Leuten, denen es nicht so gut ging, die am Aufgeben waren, die keine Kraft mehr hatten zu kämpfen? Die Tag für Tag an Boden verloren, bei denen die Behandlung nicht ansprach, die der Verzweiflung nahe waren, sei es wegen des Verlusts eines geliebten Menschen in New York oder wegen der Aussicht auf den nächsten Zyklus ihrer Chemotherapie?
Was das eigentliche Problem anging, das Überleben, konnte ich ihnen nicht helfen, und genauso wenig konnte ich etwas an den biologischen Gesetzmäßigkeiten des Krebses ändern. Genau genommen konnte ich niemandem helfen. Schlussendlich konnte ich nur versuchen, ihre Einstellung und ihren Willen zu stärken, versuchen, mit ihnen darüber zu reden, was der
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