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Jeden Tag, Jede Stunde

Jeden Tag, Jede Stunde

Titel: Jeden Tag, Jede Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natasa Dragnic
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fantastische Phädra, obwohl so jung und obwohl die Rolle und das ganze Stück den mitspielenden und den zuschauenden Kindern angepasst werden musste! Eine Comédie-Française-reife Leistung! Dora kann nicht aufhören, immer wieder abzuheben, sie liebt und stirbt noch tausendmal, bevor sie die anderen erreicht. Sie will sich, kann sich nicht dazu bringen, ihre Rolle zu verlassen, keine tragische Heldin mehr zu sein, sie darf nicht auf den Schein verzichten, der gar kein Schein ist. Es ist ihr Leben. So war es immer schon. Sie schließt die Augen und sieht sich im Spiegel, ein kleines Mädchen, sie bewegt kontrolliert ihre Gesichtsmuskeln, sie beherrscht deren Ausdruck, sie weiß in jedem Augenblick, was sie tut. Sie spielt nicht, sie ist. Sie ist alles auf einmal. Die ganze Welt, ob die Welt sie sieht oder nicht.
    Und auch wenn sich die Welt um sie herum in eine Richtung bewegt und sie sich in die andere, macht es nichts. Glückwünsche, Umarmungen, Küsse, zufriedenes Lachen. Das ist sie, und das ist sie nicht. Jeanne ist neben ihr. So viel kann sie erkennen. Jeanne zerrt an ihrem Arm und will sie entweder wachrütteln oder von hier wegbringen. Dora weiß es nicht genau, und es ist ihr auch egal. Sie hat keine Wünsche in diesem Moment. Sie möchte, dass es so bleibt. Dass alles so bleibt, wie es ist. Phädra für immer. Denn jetzt ist endlich alles klar. So klar, wie der Himmel über Paris selten ist. Und sie ist ruhig in ihrer Aufregung, verspürt keinen Tatendrang. Sie kann endlich stehen bleiben. Sie hat es gefunden.
    »Siehst du, da ist er und schaut dich an, er kann gar nicht anders, er kann die Augen nicht von dir abwenden.« Jeanne flüstert, und Dora hört sie, ohne sie richtig zu verstehen. Sie sieht aber auch eine große Gestalt, einen Jungen, der schüchtern, aber doch irgendwie entschlossen neben dem Bühneneingang steht und sie mit seinem Blick verfolgt. Dora glaubt ihn zu kennen. Er ist zwei Klassen über ihr, sie hat ihn schon öfters im Flur gesehen, blaue Augen, blondes langes Haar, ein Sportler muss er sein, Basketball, ja genau, sie war einmal bei einem Spiel dabei. Er war gut. Vielleicht nicht der Spieler des Tages, aber sehr gut. Schnell. Gérard. Er heißt Gérard. Genau. Und er nickt ihr immer leicht, fast unmerkbar, zu, wenn er im Flur an ihr vorbeigeht. Sie weiß nicht, was sie davon halten soll. Heute nicht. Er ist eben nicht Hippolyt. Aber wie er so da steht und sie schüchtern ansieht, das schnürt ihr die Kehle zu, sie hat plötzlich das Gefühl – ein Gefühl wie eine Wolke -, irgendwo anders eine andere zu sein, sie bekommt kaum noch Luft: Wenn sie eine andere wäre, würde sie jetzt sicher in Ohnmacht fallen.
    »Ich glaube, er kommt her!« Jeanne flüstert begeistert und drückt Doras Hand so fest, dass es Dora wehtut. Und das rettet sie vor diesem drückenden Gefühl in der Brust und im Kopf und im ganzen Körper, und es holt sie zurück, und dieser Gérard ist nur ein Gérard und alles ist in Ordnung und sie kann wieder frei atmen und eine wundervolle Phädra sein.
    Und da ist er schon wahrhaftig. Immer noch kein Hippolyt – was womöglich gar nicht schlecht ist, Hippolyt hat sie ja sowieso nicht geliebt! -, aber mit einem Lächeln im ganzen Gesicht und einem Strahlen in den Augen, das sie zwingt, sich ihres Atmens bewusst zu werden. Vielleicht gibt es heute noch eine andere Vorstellung, von der ihr niemand etwas gesagt hat? Im ersten Moment spürt sie etwas wie Panik, aber dieses Gefühl verflüchtet sich sogleich, denn sie kann alles spielen, jede Rolle, und sie ist gut im Improvisieren! Es kann also gar nichts schief gehen.

6
    »Bitte, mach auf!« Anas Stimme ist undeutlich, aber beharrlich und aufdringlich, eben weil sie so leise ist; man denkt, man könne sich vor ihr verstecken, ihr entfliehen, aber das ist eine große Illusion. Sogar durch die geschlossene Tür ist die Stimme seiner Schwester voller Kraft. Sogar in dieser Situation.
    Luka liegt auf dem Bett in seinem Elternhaus und weint. Ganz still. Er ist nicht traurig. Er ist wütend. Er liegt auf dem Rücken und starrt an die Decke und stellt sich vor, sie wäre der Himmel und er läge am Strand und die dunklen Stellen wären Wolken … Und sofort weiß er, dass das ein riesengroßer Fehler ist. Es gibt Tabus, die zu Recht Tabus sind. Die man auf keinen, auf gar keinen Fall brechen sollte.
    Wie zum Beispiel Wolken beobachten. Oder sich auch nur vorstellen, sie beobachten zu können.
    In diesem Augenblick fängt die

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