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Jeden Tag, Jede Stunde

Jeden Tag, Jede Stunde

Titel: Jeden Tag, Jede Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natasa Dragnic
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nicht verdiente Pause gönnen, laut applaudiert und nach mehr verlangt. Ja, es ist eine ganz wichtige Sprache für Dora geworden, obwohl sie ihr am Anfang ein wenig Angst gemacht hat.
    Nur über das Meer schweigt Dora ausgiebig. Das Meer kennt nur eine Sprache. Das weiß Dora. Sie spürt es. Es wäre ein Betrug, über das Meer, die Wellen, den Felsen, die Möwen, das Tauchen, den Kiesstrand, das Boot, den Lutscher, die Muscheln, die Wolken in der neuen Sprache zu sprechen. Es würde nichts bedeuten. Es wären nur Worte, leere Worte, die jeder sagen kann und die jedem gehören können, und das wäre nicht zu ertragen. Das hieße, auf etwas zu verzichten, das nur sie ihr Eigen nennen darf, nur sie und kein anderer. Jedenfalls keiner, an den sie denken will. Darf. Sie schließt diese Worte in ihre Seele ein und lässt sie darin wandern. Und warten. Dass der Prinz kommt und sie, die Worte, aus diesem türlosen Turm befreit, wo sie zu sterben drohen. Wo die Luft ganz oft ganz dünn wird.
    Und eine Sache hat sie völlig vergessen. In jeder Sprache.

5
    Luka will nicht. Er ist siebzehn Jahre alt, er will selbst entscheiden können. Und er will diesen Ort nicht verlassen. Das ist sein Zuhause. Nur hier kann er malen und leben und dem Meer nahe sein. Auch wenn alle meinen, es sei das einzig Richtige für seine Zukunft. Nicht einmal Frau Mesmer kann ihn überreden, denn er ist kein Verräter. Nicht wie einige andere, die er nicht kennt. Nicht mehr kennt. Er geht nicht einfach weg und verlässt die Menschen, die er gern hat und die ihn gern haben.
    Er will nicht glauben, dass er in Zagreb, an der Kunstakademie, etwas lernen könnte, was er hier, in Makarska, nicht kann. Hier ist das Licht. Hier sind die Farben, die sein Leben bedeuten. Und das Meer. Alles ist hier. Der Treffpunkt. Wie oft hat ihm die Mutter gesagt: »Wenn wir uns aus den Augen verlieren, dann bleib da stehen, wo du bist, ich werde dich schon finden, denn wenn wir beide herumirren und nacheinander suchen, werden wir uns verpassen und nie finden.« Einer muss also da bleiben, wo alles passiert ist, einer muss dort warten, sonst werden sie sich nie mehr begegnen können. Wo sollen sie sich sonst treffen?!
    Und außerdem muss er auf seine Mutter aufpassen, jetzt da der Vater weg ist, verschwunden, einfach weggezogen, mit dem Boot, wie ein Goldsuchender. Als hätte er vergessen, was der richtige Schatz ist und wo er sich befindet. Nein, weinen will er nicht, er ist doch schon siebzehn Jahre alt, erwachsen, er kann sich um die Familie kümmern, klar, er lässt Menschen, die er liebt, nicht im Stich, nein, nie, nicht wie einige andere, die er nicht mehr kennt und die er nicht mehr braucht, er ist schon siebzehn Jahre alt, erwachsen.
    Als würde er fliegen, durchläuft Luka den Wald auf der Halbinsel Osejava, begegnet niemandem, er rennt und ringt nach Luft, und bald wird er in Tučepi sein, wenn er so weitermacht. Ob sein Vater sich vielleicht da versteckt hat? Wenn er ihn dann sieht, soll er einfach weitergehen, den Kopf zur anderen Seite drehen, verächtlich, oder soll er ihn grüßen, fragen, wie es ihm geht? Weinen wird er aber auf keinen Fall, nein, er ist jetzt der Mann im Haus, und Männer tun so etwas nicht. Soll er ihn bitten, nach Hause zu kommen? Nichts ist mehr sicher, nichts und niemand. Jetzt da man sogar Picassos Bilder aus dem Papstpalast stehlen kann! Hundertneunzehn Bilder! Nein, weinen wird er nicht.
     
    Dora strahlt über das ganze vierzehnjährige Gesicht. Sie sieht und hört nichts. Ihr Körper glüht. Sie tut, was man ihr beigebracht hat. Vor allem tut sie aber das, was sie in sich trägt, was sie erfüllt, was in jedem ihrer Atemzüge steckt. Sie muss sich nicht anstrengen, um die erwünschten Gefühle in sich zu finden, sie muss sich allerdings äußerst bemühen, sie in sich zu behalten, sie nicht alle auf einmal herauszulassen, sie unter Kontrolle zu haben und nur tropfenweise zu offenbaren. Denn so muss es sein. Nicht zu viel. Nicht auf einmal. Das Geheimnis guter Schauspieler.
    Die Vorstellung ist ein großer Erfolg. Und nicht nur deswegen, weil im Publikum nur Verwandte und Freunde der jungen Mimen sitzen. Nein, es liegt an ihr und dem Zauber, den sie um sich verbreitet, und an der Leere, die sie hinterlässt, wenn sie von der Bühne geht. Auch wenn es nur eine Schulbühne ist, klein und ohne rote Samtvorhänge. Aber trotzdem war es Racine, ein echter, klassischer, schwieriger – wenn auch gekürzter – Racine! Und sie war eine

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