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Jeden Tag, Jede Stunde

Jeden Tag, Jede Stunde

Titel: Jeden Tag, Jede Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natasa Dragnic
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noch?«
    Das Meer, will sie sagen. Die Wolken. Der Felsen … Sie fängt an zu zittern. Das Gefühl, dass da etwas war. Jemand. Immer noch da ist. Vielleicht.
     
    Luka liegt auf seinem Bett und beobachtet die Decke über sich. So viele Jahre ist es her. Die Hälfte seines Lebens. Die stumme Hälfte. Die tote Hälfte. Die er durchs Malen lebendig machen wollte. Zeit in Überdosis. Farbe im Überfluss. Und die Stille.
     
    Dora ist von Gérard weggelaufen, sie hat keinen anderen Ausweg gefunden, weil die richtigen Worte nicht gekommen sind. Sie ist geflohen. Und jetzt sitzt sie im großen Kuschelsessel in ihrem Zimmer, in der leeren Wohnung. Vater auf Reisen. Mutter im Büro. Wahrscheinlich. Dora ist allein in dieser riesigen Wohnung, die so weit weg ist von den wichtigsten Sachen. Von ihr und ihrem Leben. Vom Leben jenseits der Bühne, in dem sie sich selbst um die Worte kümmern soll. Jahre, gefüllt mit Schweigen und Blindheit. Sie bewegt sich nicht. Sie will nicht suchen. Sie hat das Gefühl, wie so oft in diesen Jahren, dass es gefährlich sein könnte, zu suchen. Zu finden. Zu sehen. Wie ist es dazu gekommen? Das ist das Alter, schlicht und ergreifend, würde ihre Mutter sagen.
     
    Kinderkram. Wenn Luka nur daran glauben könnte. Alles vergessen. Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt, hier wegzugehen. Jetzt, wo alle weg sind. Vater verschwunden. Mutter gestorben.
     
    Das Telefon klingelt. Dora bleibt unbeweglich sitzen. Sie muss nachdenken. Sie wundert sich, dass es noch wichtigere Sachen für sie gibt als das Schauspielen. Denn sie denkt nicht über ihre Rolle im neuen Theaterstück nach, das am Ende des Schuljahres aufgeführt wird. Sartre. Camus wäre ihr lieber, seine Sprache findet sie weicher. Aber daran denkt Dora jetzt nicht. Nein. Sie versucht, sich zu erinnern. Da war etwas. Der Hafen. Eine kleine Stadt. Nur wenige Straßen, die für Autos breit genug waren. Keine Ampel. Da waren Boote. Viele kleine Boote. Und es hat selten geregnet. Es gab leckeres Schokoladeneis. Und Kuchen. Und lustige runde Lutscher. Und die Leute waren sehr nett. Heiß war es im Sommer. Sehr heiß. Und sie hatte einen blauen Badeanzug, aus Italien. Hat ihr Vater ihr geschenkt. Mit kleinen Glitzersteinchen, die im Wasser schimmerten wie der Schwanz einer Meerjungfrau. Im Meer, nicht im Wasser. Die kleinen Körnchen machen den Unterschied, die sich so gut auf der Haut anfühlen und, wenn sie trocknen, lustige weiße Muster hinterlassen. Dann zieht die Haut sich zusammen und eine Spannung entsteht, die angenehm ist und Glück bedeutet.
    Und wieder klingelt das Telefon, und Dora bleibt sitzen.
    Ihr fällt der Name nicht ein. Wieso fällt ihr der Name nicht ein?!
     
    Luka liegt auf seinem Bett und beobachtet die Decke über sich.
    Er ist nach Hause gekommen, eine Stunde früher als üblich, die letzte Stunde, Mathe, war ausgefallen, was gut war, denn er hatte sich nicht besonders gut vorbereitet. »Mama«, hat er gerufen, »ich bin da.« Nichts. Aber das war nicht ungewöhnlich, seine Mutter hat seit Monaten das Bett nicht verlassen: Seit Papas Auszug ist sie krank gewesen. Ohne Diagnose. Ohne Medikamente. Ohne Hoffnung. Also vielleicht doch verraten und verlassen. Irgendwann hat Luka sich keine Mühe mehr gegeben. Denn bei den Versuchen, sie aufzumuntern, kam er sich so dumm vor. Wie ein Clown. Alles sinnlos. Er ist in die Küche gegangen und hat sich einen Apfel genommen. Hineingebissen. Gierig. Er hat aus dem Fenster hinausgestarrt. Es war ein heißer Frühlingstag. Er wollte zum Strand gehen und vor dem Training noch ein wenig malen. Plötzlich hat ihn die Stille gestört. Sie hatte etwas an sich, das ihn ins Zimmer seiner Mutter führte. Da hat sie gelegen. Der Kopf zur Tür gedreht, als hätte sie auf ihn gewartet. Augen offen. »Mama?« Augen offen und unbeweglich. »Mama!« Natürlich hat er alles gleich verstanden. Natürlich wollte er nichts verstehen. Er ging auf sie zu. »Mama.« Ganz leise. Er fasste ihren ausgestreckten Arm an. Kühl. »Mama.« Er legte ihr die Hand auf die Stirn. Kühl. Trocken. »Mama.« Er neigte sich ganz tief über ihr Gesicht. Die Lippen ein wenig auseinander. Als würde sie lächeln. Luka konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er seine Mutter das letzte Mal hat lächeln sehen. Geschweige denn lachen. »Mama.« Dass sie schwieg und nichts antwortete, war nicht überraschend. Luka setzte sich neben sie aufs Bett. »Mama.« Seine Finger glitten über ihr Gesicht. Es war entspannt. Ruhig.

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