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Jeden Tag, Jede Stunde

Jeden Tag, Jede Stunde

Titel: Jeden Tag, Jede Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natasa Dragnic
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Wut an, sich mit der Trauer zu vermischen. Anas Worte klingen nun wie Regentropfen. Schnelle, unzählige Tropfen.
    »Bitte, lass mich rein, bitte!«
    Sie sagt zwar bitte, aber sie meint es nicht so. Sie verlangt es. Sie denkt nicht einmal daran, dass man ihr widersprechen könnte. Trotzdem ist sie lieb und sanft und echt. Stark. Und doch erst dreizehn Jahre alt.
    Wie Papa, denkt Luka. Stark wie Papa. Er beneidet sie deswegen. Er wäre auch gerne wie Papa. Dieses Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit. Auch wenn er nicht mehr da ist.
    Papa hat sie im letzten Jahr verlassen, er ist einfach ausgezogen. Er ist mir nichts, dir nichts in eine andere, völlig fremde Stadt gezogen. Er hat sein Boot mitgenommen und ist verschwunden. Auch wenn Luka jetzt seine Adresse hat und ihn jederzeit besuchen oder mit ihm telefonieren kann, ist er für ihn immer noch verschwunden. Verschollen. Er ist nicht mehr da, wo er sein sollte. Bei ihm. Bei Ana. Bei der Mutter. Geflohen. Einfach so. Auch wenn sein Weggehen sich über Jahre angekündigt hat, ist es dann doch plötzlich geschehen. Niemand hat es für möglich gehalten. Niemand. Außer Ana. Und Mutter. Und Verwandten. Und Nachbarn. Und Freunden. Und allen, die ihn gekannt haben. Nur sein Sohn war überrascht. Als hätte er Wolken auf den Augen gehabt. Oder Farbe. Jahrelang hat Luka beobachten können, wie das Glück langsam aus dem Gesicht seines Vaters rann. Das Lachen. Die Lebenslust. In Schweigen hat er sich eingehüllt, sich mit leeren Augen vor der Welt versteckt. Zurückgezogen, von ihm, seinem Sohn. Seinem Kumpel. War nur noch auf dem Boot zu finden. Bis er dann völlig weg war. Und keiner hat etwas gesagt. Als wäre es das Normalste auf der Welt. Keine Fragen, gar nichts. Nur Luka ist herumgelaufen wie von Sinnen und hat nach ihm gesucht. »Werd erwachsen«, hat Ana, seine kleine Schwester, gesagt. Die Mutter hat nur den Kopf abgewendet und geschwiegen. Luka hatte das Gefühl, sie hat es dem Vater nicht einmal übel genommen. Als wäre sie einverstanden gewesen. Aber Luka, er war nicht einverstanden! Er war verraten und verlassen und konnte nichts tun. Herumzulaufen, wie damals vor einem Jahr, als es passierte, hat jetzt keinen Zweck, ist keine Lösung. Hätte er ihn damals getroffen, ja, dann hätte alles vielleicht anders sein können. Aber so! Jenes ziellose Suchen! So lächerlich. So pathetisch.
    Andere haben für ihn entschieden. Schon wieder. »Werd erwachsen«, hat Ana, seine kleine Schwester, gesagt.
     
    »Nein, ich will nicht!«
    »Du liebst mich nicht.«
    Gérard dreht sich von Dora weg und senkt den Kopf. Dora ist nicht sicher, ob er tatsächlich verletzt ist oder beleidigt oder traurig oder ob das Ganze nur ein Spiel ist, um sie doch noch herumzubekommen. Sie sind jetzt seit einem Jahr zusammen. Es war ein schönes Jahr. Dora genießt es, wie er sich um sie bemüht. Er ist gut zu ihr, und ihr Herz schlägt schneller, wenn er ihre Hand hält. Und sie sind im Januar gemeinsam zur Eröffnung des Centre Georges Pompidou gegangen und waren in der Menge am Bahnhof, als sich der Orientexpress »Paris-Istanbul« auf seine letzte Fahrt machte, und im April, als Prévert starb, hat sie ihm stundenlang seine Gedichte vorgetragen, und sie haben zusammen geweint, sie mehr als er, aber das heißt nichts. Sie vertraut ihm. Und dennoch. Da ist irgendetwas, das sie nicht versteht, das sie verunsichert und zurückhält. Sie sehnt sich nach seinen Küssen, seiner Umarmung. Er streichelt so schön ihre Haare. Er sagt immer, er liebe ihre Haare. Sie glänzten so. Ihr gefällt es, wie er ihren Namen ausspricht. Wie er ihn ihr ins Ohr flüstert. Wie seine Lippen sie leicht berühren und sie erzittern lassen.
    Aber sie liebt ihn nicht. Da ist sie sich ganz sicher. Sie kann es ihm nur nicht sagen. Denn sie mag ihn. Sie fühlt sich wohl mit ihm. Sie will nicht Schluss machen. Nein, auf keinen Fall. Sie will nur nicht mit ihm schlafen.
    Sie ist erst fünfzehn Jahre alt. Das ist zu früh.
    »Ich kann noch nicht.« Das ist eine Fast-Lüge. Denn sie wird nie mit ihm wollen. Sie weiß es, ohne zu wissen, warum. Sie weiß, dass er nicht ihr erster Mann sein wird. Das ist kein Gefühl, es ist eine Überzeugung, die sie beherrscht, wie sie die Bühne beherrscht, wenn sie darauf steht und ihren Text spricht oder auch schweigt oder ihre Mitspieler einfach nur ansieht.
    »Warum nicht?«
    Sie kann nichts sagen. Sie kann auf keinen Fall die Wahrheit sagen.
    »Worauf wartest du? Was fehlt dir

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