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Jeden Tag, Jede Stunde

Jeden Tag, Jede Stunde

Titel: Jeden Tag, Jede Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natasa Dragnic
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Fast zufrieden. Das Wort »ausgeglichen« drängte sich ihm auf. Luka legte den Kopf auf ihre Brust und machte die Augen zu. »Mama.« Er hörte nichts. Kein Pochen. Sein Kopf bewegte sich nicht. Nicht einmal einen Millimeter. Oder wenigstens einen Nanometer. Wie ein Stein war ihre Brust. Und doch weich. Auf eine schmerzhafte Art und Weise. »Mama.« Er streichelte ihren Kopf. Ihre Wangen. Ihren Hals. Ihre mageren Schultern. Ihre Arme. Und dann wieder den Kopf. Die Haare. Die Wangen. Den Hals. Die mageren Schultern. Die Arme. Und dann wieder den Kopf… »Mama.«
    Dann ist Ana gekommen. »Mama!«, hat sie geschrien. Geweint. »Mama, nein, bitte nicht, nein, Mama, nein, bitte, Mama …«
    Luka ist aufgestanden und hat Ana umarmt. Nicht sehr lange. Er hat nicht gewartet, bis sie sich beruhigt hat. Nein. Ana hat immerfort geweint. Geheult hat sie. Laut und unaufhörlich.
    Also ist Luka wortlos in sein Zimmer gegangen und hat sich eingesperrt. Verraten und verlassen. Auf die Decke gestarrt.
    Und so seit Stunden schon.
     
    Dora macht die Augen zu und spürt das Salz auf der Haut. Im Mund. Es schmeckt so vertraut. Ein wenig bitter. Und wieder klingelt das Telefon. Dieser Name! Man wird sich doch an einen Namen erinnern können! Makarska, ja, das ist doch klar, das ist kein Geheimnis. Aber der andere.
     
    Vielleicht sollte er tatsächlich die Kunstakademie besuchen und sich um seine Zukunft kümmern. Etwas ganz Neues. Ja, das wäre gar nicht schlecht. Die Idee gefällt ihm. Zur Abwechselung könnte er einmal weggehen, andere verlassen. Es hat keinen Sinn, hierzubleiben und zu warten und die Stellung zu halten. Für wen auch?! Alle sind fort.
    »Luka, öffne die Tür! Wir müssen uns unterhalten, wir müssen den Arzt anrufen, uns um das Begräbnis kümmern, Entscheidungen treffen. Bitte!«
    Ja, Ana hat recht. Er muss Entscheidungen treffen. Erwachsen werden.
     
    Das Telefon klingelt wieder. Dora bleibt unbeweglich sitzen. Sie muss nachdenken. Sie muss sich auf diese Reise voller Erinnerungen begeben, auch wenn sie kein Visum dafür hat. Gefühle erscheinen und verschwinden wieder, bevor sie sie aufnehmen kann. Aber sie versteht, dass es wichtig ist. Wenn sie weiterkommen will, muss sie es jetzt tun. Sich gehen lassen. Sich vergessen, um sich zu erinnern. Das Meer unter dem klaren Himmel. Da muss sie anfangen. Es ist nicht in Südfrankreich, nein. Nicht da, wo sie in den letzten Jahren immer mit den Eltern war. Auch nicht in der Bretagne, nein, auf keinen Fall. Es muss noch ein anderes Meer geben. Die Angst wird sie führen. Wird ihr Wegweiser sein. Zum Felsen. Sie schluchzt laut und erinnerungslos. Wovor hat sie denn Angst?
     
    Er öffnet die Tür, und in einem Moment der Klarheit – und auch Verwirrung – sieht er ein kleines, dürres, dunkelhaariges Mädchen vor sich stehen, das ihn mit großen schwarzen Augen anlächelt, ihm die Hand entgegenstreckt und ihn mitnimmt …
    »Endlich!«
    Ana ist erst dreizehn Jahre alt und weise wie Toma, der alte Fischer, der immer unverändert im Hafen neben seinem Boot sitzt und entweder mit seinen Netzen oder seiner Pfeife beschäftigt ist. Dessen dunkle, von Sonne und Wind und Salz gezeichnete Haut Wärme ausstrahlt. Der alte Onkel Toma hat immer Zeit. Er redet nicht viel. Man kann sich aber zu ihm setzen und erzählen. Oder mit ihm schweigen. So oder so geht es einem bald besser. Viel besser. Das ist sicher. Man gewinnt Zuversicht und ist zum nächsten Schritt bereit. Man hat keine Angst mehr und freut sich sogar auf das, was kommt. Man will sich auf einmal gern überraschen lassen.
    Luka umarmt seine jüngere Schwester und hält sie ganz fest. Sie braucht ihn. Klar. Ihr kann er vielleicht helfen. Das wäre wunderbar. Jemandem helfen zu können. Für jemanden da sein zu dürfen. Ihn behalten zu können.
     
    Ist man mit sechs zu jung?
     
    »Es tut mir leid, es tut mir so leid …« Luka weint in Anas Haar. Es ist dick und honigblond und lang, und er kann sich gut darin vergraben. Aber er tut es nicht. Er hat sich lange genug versteckt. Damit ist Schluss. Jetzt werden Entscheidungen getroffen, und er wird sich darum kümmern, dass alles nicht noch schwieriger wird. Ana ist ruhig in seinen Armen. Luka weiß nicht, was sie fühlt, ob Erleichterung oder Wut, ob sie ihm glaubt oder nicht. »Ich kümmere mich um alles, mach dir keine Sorgen, ich mache das …« Ana bewegt sich nicht, sie atmet ganz leise und zittert gelegentlich, dann ist sie wieder ruhig. »Es tut mir leid, ich habe

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