Jeder stirbt für sich allein
Kommissar Escherich und streichelte seinen Bart. «Wir alten Kriminalisten sind doch immer einer Meinung. Wissen Sie, Schröder, es arbeiten jetzt viele Außenseiter in unserm Beruf, aber wir halten doch stets zusammen, und davon haben wir ja denn auch
manches Gute. Also, Schröder», dieses rein dienstlich, «ich bekomme dann heute noch Ihren Bericht über die Verhaftung des Kluge und das Protokoll mit den Aussagen der Sprechstundenhilfe und des Arztes. Ja, richtig, Sie hatten ja auch einen Wachtmeister mit, Schröder ...»
«Oberwachtmeister Dubberke hier vom Revier ...»
«Kenn ich nicht. Soll aber auch einen Bericht machen über das Ausreißen des Kluge. Kurz, sachlich, kein Geschwafel, keine persönlichen Urteile, verstanden, Herr Schröder?»
«Zu Befehl, Herr Kommissar!»
«Also denn, Schröder! Wenn Sie die Berichte abgegeben haben, werden Sie ja mit dieser Sache nicht mehr befaßt werden, höchstens mal irgendeine Aussage vor einem Richter oder bei uns auf der Gestapo ...» Er betrachtete seinen Untergebenen sinnend. «Wie lange sind Sie schon Assistent, Herr Schröder?»
«Schon dreieinhalb Jahre, Herr Kommissar.»
Das Auge des «Bullen», wie es jetzt auf dem Kommissar lag, hatte etwas Rührendes.
Aber der Kommissar sagte nur: «Ja, dann wird's ja auch allmählich Zeit», und verließ das Revier.
In der PrinzAlbrecht-Straße ließ er sich dann sofort bei seinem direkten Vorgesetzten, dem SS-Obergruppenführer Prall, melden. Er mußte fast eine Stunde warten; nicht, daß Herr Prall grade sehr beschäftigt gewesen wäre, oder doch, er war grade sehr beschäftigt. Escherich hörte das Klirren von Gläsern, das Schnalzen der Pfropfen, er hörte Gelächter und Geschrei: eine der häufigen Zusammenkünfte höherer Führer also. Geselligkeit, Umtrunk, heitere Zwanglosigkeit, Erholung nach der schweren Mühe, Mitmenschen zu quälen und an den Galgen zu bringen.
Der Kommissar wartete ohne Ungeduld, obwohl er an diesem Tage noch viel vorhatte. Er kannte die Vorgesetzten im allgemeinen, und er kannte diesen Vorgesetzten im besonderen. Da half kein Drängeln, und wenn halb Berlin in Flammen stand, wenn der saufen wollte, so soff er erst mal. Das war so!
Nach einem Stündchen wurde Escherich dann aber doch vorgelassen. Das Zimmer mit den deutlichen Spuren eines Trinkgelages sah ziemlich wüst aus, und der Herr Prall, dunkelrot von Armagnac glühend, sah auch ziemlich wüst aus. Aber er sagte leutselig: «Da, Escherich! Schenken Sie sich doch auch ein Glas ein! Das sind die Früchte unseres Sieges über Frankreich: echter Armagnac: zehnmal besser als Kognak. Zehnmal? Hundertmal! Warum trinken Sie nicht?»
«Bitte um Verzeihung, Herr Obergruppenführer, ich habe heute noch ziemlich viel zu tun, möchte einen klaren Kopf behalten. Übrigens bin ich das Trinken nicht mehr gewohnt.»
«Ach was, nicht gewohnt! Klarer Kopf, Flausen! Wozu brauchen Sie einen klaren Kopf? Lassen Sie jemand anders Ihre Arbeit tun und schlafen Sie sich aus. Prost, Escherich
- auf unsern Führer!»
Escherich prostete mit, weil er mußte. Er prostete auch noch ein zweites und ein drittes Mal mit, und dachte dabei, wie die Gesellschaft seiner Kameraden, zusammen mit dem Alkohol, diesen Mann verändert hatte. Prall war sonst eigentlich immer ganz erträglich, nicht halb so schlimm wie hundert andere Burschen, die mit ihren schwarzen Uniformen in diesem Bau herumliefen, sondern eher ein bißchen zweiflerisch, eben nur «kommandiert», wie er mal gesagt hatte, keineswegs von allem überzeugt.
Aber unter dem Einfluß von Kameraden und Alkohol wurde er wie die: unberechenbar, brutal, sprunghaft und bereit, jede andere Ansicht sofort mit Stumpf und Stiel auszurotten, und sei es nur eine andere Ansicht über das Trinken von Schnaps. Hätte ihm Escherich das Anstoßen ernstlich verweigert, so wäre er so sicher verloren gewesen, wie wenn er den schlimmsten Verbrecher hätte laufenlassen. Ja, eigentlich wäre so was noch unverzeihlicher gewesen, weil es an eine persönliche Beleidigung grenzte, wenn der Untergebene nicht so viel und so oft mit dem Vorgesetzten anstieß, wie der wünschte.
Escherich stieß also an, stieß mehrmals an und trank mit.
«Also, was gibt's, Escherich?» sagte dann Prall und versuchte, an seinem Schreibtisch möglichst grade zu stehen, an ihm und durch ihn. «Was haben Sie denn da?»
«Ein Protokoll», erklärte Escherich. «Von mir aufgenommen in Sachen meines Klabautermanns. Ein paar andere Berichte und
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