Jeder stirbt für sich allein
für die Leute im Gartengebäude. Aber er kennt natürlich alle, die dort wohnen, schon weil er die Lebensmittelkarten zu verteilen hat. Manche kennt er gut, manche kennt er weniger gut. Da ist zum Beispiel das Fräulein Anna Schönlein im vierten Stock, der ist das ohne weiteres zuzutrauen, daß sie solchen Mann aufnimmt. Die hat der Portier sowieso auf dem Strich, ewig übernachtet alles mögliche Gesindel bei der, und der Postsekretär in der dritten Etage darunter behauptet ja steif und fest, sie höre nachts auch ausländische Sender ab. Nur konnte es der Sekretär noch nicht beschwören, aber er wollte fleißig weiterhorchen. Ja, der Portier hatte wegen dieser Schönlein schon mal mit dem Blockwalter sprechen wollen, aber ebensogut sagte er es jetzt dem Herrn Kommissar. Der sollte es zuerst ruhig bei der Schönlein versuchen, und erst wenn sich herausstellte, dort war der Mann wirklich nicht, könnte man auf den andern Etagen nachfragen. Aber im allgemeinen wohnten nur anständige Leute auch hier hinten im Gartenhaus.
«Hier ist es!» flüsterte der Portier.
«Bleiben Sie hier stehen, damit man Sie durchs Guckloch sieht», flüsterte der Kommissar zurück.
«Sagen Sie irgendwas, warum Sie kommen, wegen des Schweinefutters für die NSV oder wegen dem WHW.»
«Ist gemacht!» sagt der Portier und klingelt.
Eine Weile erfolgt gar nichts, der Portier klingelt ein zweites und ein drittes Mal. Aber in der Wohnung bleibt alles still.
«Nicht zu Hause?» flüstert der Kommissar.
«Ich weiß doch nicht!» sagt der Portier. «Ich habe die Schönlein heute noch nicht auf der Straße gesehen.»
Und er klingelt ein viertes Mal.
Ganz plötzlich öffnet sich die Tür, die beiden haben kein Geräusch aus der Wohnung gehört. Eine lange dürre Frau steht vor ihnen. Sie hat ausgebeutelte, verfärbte Trainingshosen an, und oben trägt sie einen kanariengelben Pullover mit roten Knöpfen. Sie hat ein scharfliniges mageres Gesicht, das rotfleckig ist, rotfleckig, wie es so oft die Gesichter der Tuberkulösen sind. Auch ihre Augen glänzen wie im Fieber.
«Was ist?» fragt sie kurz und verrät keinerlei Erschrek-ken, als der Kommissar sich so dicht in die Tür stellt, daß sie nicht geschlossen werden kann.
«Ich möchte gerne mal ein paar Worte mit Ihnen sprechen,
Fräulein Schönlein. Ich bin der Kommissar Escherich von der Geheimen Staatspolizei.»
Wieder nichts von Erschrecken; die Frau sieht ihn nur immer weiter mit ihren glänzenden Augen an. Dann sagt sie rasch: «Kommen Sie!» und geht ihm voran in die Wohnung.
«Sie bleiben hier an der Tür», flüstert der Kommissar dem Portier zu. «Und wenn jemand raus oder rein will, rufen Sie mich!»
Es ist ein etwas liederliches, verstaubtes Zimmer, in das der Kommissar geführt wird. Uralte Plüschmöbel mit Säulen und Kugeln aus Großvaters Zeiten. Vorhänge aus Samt. Eine Staffelei, auf der das Bild eines vollbärtigen Mannes steht, ein vergrößertes koloriertes Foto. In der Luft hängt Zigarettenrauch, ein paar Stummel liegen im Aschenbecher.
«Was ist?» fragt Fräulein Schönlein wieder.
Sie ist am Tisch stehen geblieben, hat den Kommissar nicht zum Sitzen aufgefordert.
Aber der Kommissar setzt sich doch, er zieht eine Schachtel mit Zigaretten aus der Tasche und deutet dabei auf das Bild. «Wer ist denn das?» fragt er.
«Mein Vater», sagt die Frau. Und fragt noch einmal: «Was ist?»
«Ich wollte Sie verschiedenes fragen, Fräulein Schönlein», sagt der Kommissar und hält ihr die Zigaretten hin.
«Aber setzen Sie sich doch und nehmen Sie sich eine Zigarette!»
Die Frau sagt rasch: «Ich rauche nie!»
«Eins, zwei, drei, vier», zählt Escherich die Stummel im Aschenbecher. «Und Tabakrauch im Zimmer. Sie haben Besuch, Fräulein Schönlein?»
Sie sah ihn ohne Schrecken und ohne Angst an. «Ich ge-be nie zu, daß ich rauche», sagt sie dann, «weil mir der Arzt nämlich das Rauchen wegen meiner Lungen verboten hat.»
«Sie haben also keinen Besuch?»
«Ich habe also keinen Besuch.»
«Ich werde mir mal rasch Ihre Wohnung ansehen», er-klärt der Kommissar und steht auf. «Nein, bitte, bemühen Sie sich nicht. Ich finde meinen Weg schon.»
Er ging schnell durch die beiden andern, mit Sofas, Vertikos, Schränken, Sesseln und Säulen überfüllten Zimmer.
Einmal blieb er stehen und lauschte, das Gesicht einem Schrank zugewendet, er lächelte dabei. Dann kehrte er zu Fräulein Schönlein zurück. Sie stand noch, wie er sie verlassen, am Tisch.
«Mir
Weitere Kostenlose Bücher