Jeder stirbt für sich allein
du?»
«Schön, schön. Mach das, wie du willst. Die Hauptsache, du bewahrst ihn mir gut auf. In ungefähr einer Woche komme ich vorbei und hole mir den schweren Brocken.
Sag mir mal deine Adresse. Schön, schön! Also denn auf baldiges Wiedersehen, Hergesell!»
«Auf Wiedersehen, Grigoleit!»
Karl Hergesell trat in den Wartesaal, um sich nach Trudel umzusehen. Er fand sie in eine dunkle Ecke gedrückt, den Kopf an die Rücklehne der Bank gelegt, fest schlafend.
Einen Augenblick sah er sie an. Ihr Atem ging sachte.
Sachte hob und senkte sich die volle Brust. Der Mund war leicht geöffnet, aber das Gesicht war sehr blaß. Es sah sorgenvoll aus, und auf der Stirn standen kleine helle Schweißtropfen, als habe sie sich sehr angestrengt.
Er sah nieder auf die Geliebte. Dann, mit einem plötzlichen Entschluß, faßte er den Koffer Grigoleits und ging mit ihm zur Gepäckaufbewahrung. Nein, für Karl Hergesell war es jetzt das Wichtigste auf der Welt, daß Trudel sich nicht trübe Gedanken machte und sich aufregte.
Nahm er den Koffer nach Erkner mit, so mußte er ihr von Grigoleit erzählen, und er wußte, daß jede Erinnerung an das «Todesurteil» damals sie sehr erregte.
Als Hergesell mit dem Gepäckaufbewahrungsschein in der
Brieftasche zum Wartesaal zurückkommt, ist Trudel aufgewacht und malt sich gerade das Mäulchen rot. Sie lächelt ihm, ein wenig blaß, zu und fragt: «Was hast du dich denn eben mit so einem großmächtigen Koffer abgeschleppt? Da war bestimmt kein Kinderwagen drin, Karli!»
«Großmächtiger Koffer!» tut er verwundert. «Ich habe doch keinen großmächtigen Koffer! Ich komme eben erst, und mit dem Kinderwagen war es Essig, Trudel.»
Sie sieht ihn staunend an. Ihr Mann belügt sie? Aber warum denn? Was hat er für Heimlichkeiten vor ihr? Sie hat ihn doch eben ganz deutlich hier am Tisch stehen sehen mit dem Koffer, und dann hat er kehrtgemacht und den Koffer aus dem Wartesaal geschleppt.
«Aber, Karli!» sagt sie ein bißchen gekränkt. «Ich habe dich doch eben erst hier mit dem Koffer am Tisch stehen sehen!»
«Wie soll ich denn zu einem Koffer kommen?» erwidert er ein bißchen gereizt. «Das hast du geträumt, Trudel!»
«Ich versteh nicht, warum du mich plötzlich anschwin-delst! Das haben wir doch noch nie gemacht!»
«Ich schwindle dich nicht an, das verbitte ich mir!» Jetzt ist er ziemlich erregt, sein schlechtes Gewissen macht ihn so. Er besinnt sich und fährt etwas ruhiger fort: «Ich habe dir
gesagt, ich bin eben erst gekommen. Von einem Koffer weiß ich nichts, das hast du geträumt, Trudel!»
«Soso», sagt sie nur und sieht ihn unverwandt an. «So-so. Na schön, Karli. Dann habe ich eben geträumt. Reden wir nicht mehr davon.»
Sie senkt den Blick. Es schmerzt sie tief, daß er Heimlichkeiten vor ihr hat, und dieser Schmerz wird noch brennender dadurch, daß auch sie Heimlichkeiten vor ihm hat. Sie hat dem Otto Quangel versprochen, daß sie ihrem Mann nichts von dem Wiedersehen, geschweige denn von der Karte erzählen wird. Aber recht ist es nicht. Eheleute sollen keine Geheimnisse voreinander haben. Und nun hat auch er welche vor ihr.
Karl Hergesell schämt sich auch. Es ist schändlich, wie schamlos er die Geliebte belügt, und er hat sie sogar angeschnauzt, weil sie die Wahrheit sagt. Er kämpft mit sich, ob er ihr nicht doch lieber von dem Zusammentreffen mit Grigoleit berichtet. Aber er entscheidet: Nein, das würde sie noch mehr aufregen.
«Verzeih, Trudel», sagt er und drückt rasch ihre Hand.
«Verzeih, daß ich dich angeranzt habe. Aber ich habe mich so über die Geschichte mit dem Kinderwagen geärgert. Hör mal zu .»
Die erste Warnung
Der Überfall Hitlers auf Rußland hatte Quangels Zorn auf diesen Tyrannen neue Nahrung verliehen. Dieses Mal hatte Quangel das Werden eines solchen Überfalls in allen Einzelheiten verfolgt. Nichts war ihm überraschend gekommen, von den ersten Truppenansammlungen an «unsern Grenzen» bis zu dem Einmarsch. Er hatte von vornherein gewußt, daß sie logen, diese Hitler, Goebbels, Fritzsche, jedes Wort war erstunken und erlogen. Niemanden konnten sie in Frieden lassen, und in zorniger Entrüstung hatte er auf eine der Karten geschrieben:
«Was haben denn die russischen Soldaten getan, als Hitler sie überfiel? Karten haben sie gespielt, keiner hat in Rußland an Krieg gedacht!»
Wenn er jetzt in der Werkstatt an eine Gruppe Schwatzender herantrat, so wünschte er manchmal, wenn sie von Politik sprachen, sie
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