Jeder stirbt für sich allein
damit eine Amnestie, vielleicht wird er zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt werden!
Eine Stunde leichteres Atmen!
Und schon setzt die Angst neu ein, vergiftet diese drei, vier Tage: Sie haben diesmal gerade vor meiner Zelle Schluß gemacht, am Montag werden sie mit mir beginnen. Oh, was tu ich nur? Ich kann doch noch nicht ...
Und immer von neuem, immer von neuem, zweimal die Woche, alle Tage der Woche, jede Sekunde die Angst!
Und Monat um Monat: Todesangst!
Manchmal fragte sich Otto Quangel, woher er alles dieses wußte. Er sprach doch eigentlich nie mit jemandem, und eigentlich sprach nie jemand mit ihm. Einige dürre Worte des Aufsehers: «Mitkommen! Aufstehen! Schneller arbeiten!» Vielleicht gerade noch beim Essenabfüllen ein mehr mit den Lippen gebildetes als gehauchtes Wort:
«Heute sieben Hinrichtungen», das war alles.
Aber seine Sinne waren so unendlich scharf geworden.
Sie errieten, was er nicht sah. Seine Ohren hörten jedes Geräusch auf dem Gang, ein Gesprächsfetzen der sich ablösenden Posten, ein Fluch, ein Schrei - alles enthüllte sich ihm, nichts blieb ihm verborgen. Und dann in den Nächten, in den langen Nächten, die nach der Hausordnung dreizehn Stunden dauerten, die aber nie Nächte waren, weil in seiner Zelle stets Licht brennen mußte, dann wagte er es manchmal: er kletterte zum Fenster hinauf, er lauschte, über das Verdunklungsrouleau gezwängt, in die Nacht. Er wußte, die Posten auf dem Hof mit ihren ewig bellenden Hunden hatten den Befehl, auf jedes Gesicht im Fenster zu schießen, und nicht selten fiel auch einmal ein Schuß -aber er wagte es trotzdem.
Er stand da auf seinem Schemel, er spürte die reine Nachtluft (schon diese Luft war belohnend für jede Gefahr), und dann hörte er das Flüstern von Fenster zu Fenster, sinnlose Worte zuerst: «Den Karl hat's mal wieder!»
Oder: «Die Frau von 347 hat heute den ganzen Tag unten gestanden», aber mit der Zeit konnte er sich auf alles einen Vers machen. Mit der Zeit wußte er, daß in der Zelle neben ihm ein Mann von der Spionageabwehr saß, der sich dem
Feinde verkauft haben sollte, und der schon zweimal versucht haben sollte, sich umzubringen. Und in der Zelle hinter ihm saß ein Arbeiter, der hatte in einem Elektrizitätswerk die Dynamos verschmoren lassen. Und der Aufseher Brennecke besorgte Papier und Bleistiftstummel und schmuggelte auch Briefe aus dem Bau, wenn er von außen geschmiert wurde, mit sehr viel Geld oder besser noch mit Lebensmitteln. Und ... und ... Nachrichten über Nachrichten. Auch ein Totenhaus spricht, atmet, lebt, auch in einem Totenhaus erlischt nicht das unbezwingliche Bedürfnis der Menschen, sich mitzuteilen.
Aber wenn auch Otto Quangel sein Leben - manchmal
- wagte, um zu lauschen, wenn seine Sinne auch nie müde wurden, auf jede Veränderung zu achten, so ganz gehörte Quangel nicht zu den andern. Manchmal ahnten sie, daß auch er am nächtlichen Fenster stand, einer flüsterte: «Na, wie ist's denn mit dir, Otto? Gnadengesuch schon zurück?» (Sie wußten alles über ihn.) Aber nie antwortete er mit einem Wort, nie gab er zu, daß auch er lauschte. Er gehörte nicht zu ihnen, wenn auch das gleiche Urteil über ihn verhängt war, er war ein ganz anderer.
Und daß er ein ganz anderer war als sie, das machte nicht sein Einzelgängertum, wie es früher gewesen, das machte nicht sein Bedürfnis nach Ruhe, das ihn bisher von allen getrennt hatte, das kam nicht von seiner Abneigung gegen Reden, die früher seine Zunge schweigsam gemacht -sondern das machte jenes kleine Glasröhrchen, das ihm der Kammergerichtsrat Fromm gegeben.
Dieses Röhrchen mit der wasserhellen Blausäurelösung hatte ihn frei gemacht. Die andern, seine Leidensgefährten, sie mußten den letzten bitteren Weg gehen; er hatte die Wahl. Er konnte in jeder Minute sterben, er mußte es nur wollen. Er war frei. Er war im Totenhaus, hinter Git-tern und Mauern, er war, gehalten mit Ketten und Schellen - er, Otto Quangel, Tischlermeister a. D., Werkmeister a. D., Ehegatte a. D., Vater a. D., Aufrührer a. D. - er war frei geworden. Das hatten sie bewirkt, sie hatten ihn frei gemacht, wie er es nie in seinem Leben gewesen war.
Er, der Besitzer dieses Glasröhrchens, fürchtete den Tod nicht. Der Tod war zu jeder Stunde bei ihm, er war sein Freund. Er, Otto Quangel, brauchte an den Montagen und den Donnerstagen nicht lange vor der Zeit zu erwachen und angstvoll an der Tür lauschen. Er gehörte nicht zu ihnen, nicht ganz. Er
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