Jeder stirbt für sich allein
... Ich könnte nie richtig mit ihm reden, wie ich mit Siegfried gesprochen habe.
Ich glaube, er ist kalt. Trotzdem er gütig ist, ist er kalt.
Selbst seine Güte ist kalt. Das macht das Gesetz, dem er untertan ist, diese Gerechtigkeit. Ich bin immer nur einem Gesetz untertan gewesen: die Kinder und den Mann liebzuhaben und ihnen vorwärtszuhelfen im Leben. Und nun sitze ich hier bei diesem alten Mann, und alles, was ich bin, ist von mir abgefallen. Das ist das Alleinsein, von dem er sprach. Es ist jetzt noch nicht halb sieben Uhr morgens, und vor zehn Uhr abends werde ich ihn nicht wiedersehen. Fünfzehn und eine halbe Stunde allein mit mir - was werde ich alles erfahren über mich, das ich noch nicht wußte? Mir ist angst, mir ist so sehr angst! Ich glaube, ich werde schreien, noch im Schlafe werde ich schreien vor Angst! Fünfzehn und eine halbe Stunde! Die halbe Stunde hätte er noch bei mir sitzen können. Aber er wollte durchaus in seinem alten Buch lesen. Menschen bedeuten ihm trotz all seiner Güte nichts, ihm bedeutet nur seine Gerechtigkeit etwas. Er tut es, weil sie es von ihm verlangt, nicht um meinetwillen. Es hätte erst Wert für mich, wenn er's um meinetwillen täte!
Sie nickt diesem gramentstellten Gesicht Saras im Spiegel langsam zu. Sie sieht sich nach dem Bett um. Das Zimmer meiner Tochter. Sie starb 1933. Nicht hier! Nicht hier! schießt es ihr durch den Kopf. Sie schaudert. Wie er es sagte. Sicher ist die Tochter auch durch - die gestorben, aber er wird nie darüber sprechen, und ich werde ihn auch nie zu fragen wagen. Nein, ich kann nicht in diesem Zimmer schlafen, es ist grauenvoll, unmenschlich. Er soll mir die Kammer seiner Bedienerin geben, ein Bett noch warm vom Leib eines wirklichen Menschen, der darin schlief. Ich kann hier nie schlafen. Ich kann hier nur schreien ...
Sie tippt die Döschen und die Schächtelchen auf dem Toilettetisch an. Vertrocknete Cremes, krümeliger Puder, grünbelaufene Lippenstifte - und sie ist seit 1933 tot. Sieben Jahre. Ich muß etwas tun. Wie es jagt in mir - das ist die Angst. Jetzt, da ich auf dieser Insel des Friedens angelangt bin, kommt meine Angst hervor. Ich muß etwas tun.
Ich darf nicht so allein sein mit mir.
Sie kramte in ihrer Tasche. Sie fand Papier und Bleistift.
Ich werde den Kindern schreiben, Gerda in Kopenhagen, Eva in Ilford, dem Bernhard und dem Stefan in Brooklyn.
Aber es hat keinen Sinn, die Post geht nicht mehr, es ist Krieg. Ich werde an Siegfried schreiben, irgendwie schmuggle ich den Brief schon durch nach Moabit. Wenn diese alte Bedienerin wirklich zuverlässig ist. Der Rat braucht nichts zu merken, und ich kann ihr Geld oder Schmuck geben. Ich habe noch genug .
Sie holte auch das aus der Handtasche, sie legte es vor sich hin, das in Pakete gepackte Geld, den Schmuck. Sie nahm ein Armband in die Hand. Das hat mir Siegfried
geschenkt, als ich die Eva bekam. Es war meine erste Geburt, ich habe viel aushalten müssen. Wie er gelacht hat, als er das Kind sah! Der Bauch hat ihm gewackelt vor Lachen.
Alle mußten lachen, wenn sie das Kind sahen mit seinen schwarzen Ringellöckchen über den ganzen Schädel und seinen Wulstlippen. Ein weißes Negerbaby, sagten sie. Ich fand Eva schön. Damals schenkte er mir das Armband. Es hat sehr viel gekostet; alles Geld, das er in einer Weißen Woche verdient hatte, gab er dafür. Ich war sehr stolz, ei-ne Mutter zu sein. Das Armband bedeutete mir nichts.
Jetzt hat Eva schon drei Mädels, und ihre Harriet ist neun.
Wie oft sie an mich denken mag, da drüben in Ilford. Aber was sie auch denken mag, sie wird sich nie vorstellen, wie ihre Mutter hier sitzt, in einem Totenzimmer beim Richter Fromm, der nur der Gerechtigkeit gehorcht. Ganz allein mit sich .
Sie legte das Armband hin, sie nahm einen Ring. Sie saß den ganzen Tag vor ihren Sachen, sie murmelte mit sich, sie klammerte sich an ihre Vergangenheit, sie wollte nicht daran denken, wer sie heute war.
Dazwischen kamen Ausbrüche wilder Angst. Einmal war sie schon an der Tür, sie sagte zu sich: Wenn ich nur wüßte, sie quälen einen nicht lange, sie machten es schnell
und schmerzlos, ich ginge zu ihnen. Ich ertrage dieses Warten nicht mehr, und wahrscheinlich ist es ganz zwecklos. Eines Tages kriegen sie mich doch. Wieso kommt es auf jeden Überlebenden an, wieso grade auf mich? Die Kinder werden seltener an mich denken, die Enkel gar nicht, Siegfried dort in Moabit wird auch bald sterben. Ich verstehe nicht, was der
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