Jeder stirbt für sich allein
Lift wird denken: Das ist ein alter Mann, er mißtraut einem Fahrstuhl. Oder er wird denken, er will nur in den ersten Stock. Oder er wird überhaupt nichts denken. Jedenfalls sind diese Treppen kaum benutzt. Er ist schon auf der zweiten, und bisher ist ihm nur ein Bürojunge begegnet, der eilig, ein Paket Briefe in der Hand, die Treppen hinabstürzte. Er sah Quangel gar nicht an. Der könnte seine Karte hier überall ablegen, aber er vergißt nicht einen Augenblick, daß dieser Fahrstuhl da ist, durch dessen blinkende Scheiben er jederzeit beobachtet werden kann.
Er muß noch höher, und der Fahrstuhl muß grade in die Tiefe versunken sein, dann wird er es tun.
Er bleibt an einem der hohen Fenster zwischen zwei Stockwerken stehen und starrt auf die Straße hinunter.
Dabei zieht er, gut gegen Sicht gedeckt, den einen Handschuh aus der Tasche und streift ihn über seine
Rechte. Er steckt diese Rechte wieder in die Tasche, vorsichtig gleitet sie an der dort bereitliegenden Karte vorbei, vorsichtig, um sie nicht zu zerknittern. Er faßte sie mit zwei Fingern ...
Während Otto Quangel all das tut, hat er längst gesehen, daß Anna nicht auf ihrem Platz am Schaufenster, sondern daß sie am Rande des Fahrdamms steht und höchst auffallend mit sehr blassem Gesicht nach dem Bürohaus hinübersieht. So hoch, wie er steht, erhebt sie den Blick nicht, sie mustert wohl die Türen im Erdgeschoß. Er schüttelt unmutig den Kopf, fest entschlossen, die Frau nie wieder auf einen solchen Weg mitzunehmen. Natürlich hat sie Angst um ihn. Aber warum hat sie Angst um ihn? Sie sollte um sich selbst Angst haben, so falsch wie sie sich benimmt. Sie erst bringt sie beide in Gefahr!
Er steigt weiter treppauf. Als er am nächsten Fenster vorbeikommt, schaut er noch einmal auf die Straße, aber jetzt sieht Anna wieder in das Schaufenster hinein. Gut, sehr gut, sie hat ihre Angst untergekriegt. Sie ist eine mutige Frau. Er wird gar nicht mit ihr darüber sprechen. Und plötzlich nimmt Quangel die Karte, legt sie vorsichtig auf das Fensterbrett, reißt, schon im Gehen, den Handschuh von der Hand und steckt ihn in die Tasche.
Die ersten Stufen hinabsteigend, sieht er noch einmal zurück. Da liegt sie im hellen Tageslicht, von hier aus kann
er noch sehen, eine wie große, deutliche Schrift seine erste Karte bedeckt! Jeder wird sie lesen können! Und verstehen auch! Quangel lächelt grimmig.
Zugleich hört er aber auch, daß eine Tür im Stockwerk über ihm geht. Der Fahrstuhl ist vor einer Minute in die Tiefe gesunken. Wenn es dem da oben, der grade ein Büro verlassen hat, zu langweilig ist, auf das Wiederheraufkommen des Fahrstuhls zu warten, wenn er die Treppe hinuntersteigt, die Karte findet: Quangel ist nur eine Treppe tiefer. Wenn der Mann läuft, kann er Quangel noch erwischen, vielleicht erst ganz unten, aber kriegen kann er ihn, denn Quangel darf nicht laufen. Ein alter Mann, der wie ein Schuljunge die Treppe hinunterläuft -
nein, das fällt auf. Und er darf nicht auffallen, niemand darf sich erinnern, einen Mann von dem und dem Aussehen überhaupt in diesem Hause gesehen zu haben ...
Er geht aber immerhin ziemlich rasch diese Steinstufen hinunter, und zwischen dem Geräusch, das seine Schritte machen, lauscht er nach oben, ob der Mann wohl wirklich die Treppe benutzt hat. Dann muß er eigentlich die Karte gesehen haben, die ist gar nicht zu übersehen. Aber Quangel ist seiner Sache nicht sicher. Einmal glaubt er, Schritte gehört zu haben. Aber nun hört er schon lange nichts mehr. Und jetzt ist er zu tief unten, um noch irgend etwas zu hören. Der Fahrstuhl fährt lichterglänzend an ihm vorbei in die Höhe.
Quangel tritt in den Ausgang. Grade kommt ein großer Trupp Menschen vom Hofe her, Arbeiter aus irgendeiner Fabrik, Quangel schiebt sich unter sie. Diesmal, ist er ganz sicher, hat ihn der Portier überhaupt nicht angesehen.
Er geht über den Fahrdamm und stellt sich neben Anna.
«Erledigt!» sagt er.
Und als er das Aufleuchten ihres Auges, das Nachzittern ihrer Lippen sieht, setzt er hinzu: «Niemand hat mich gesehen!» Und schließlich: «Komm, laß uns gehen. Es ist grade noch Zeit, daß ich zu Fuß in die Fabrik komme.»
Sie gehen. Aber beide werfen im Gehen noch einen Blick auf dieses Bürohaus zurück, in dem nun die erste Karte Quangels ihren Weg in die Welt antritt. Sie nicken dem Haus gewissermaßen abschiednehmend zu. Es ist ein gutes Haus, und so viele Häuser sie auch in den nächsten Monaten und Jahren
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