Jeder stirbt für sich allein
kühles Herz so spät noch aufsuchen.
Aber Anna Quangel sagt, begeistert von dieser Vision:
«Und wir werden die ersten gewesen sein! Niemand wird es wissen, aber wir wissen es.»
Er sagt plötzlich nüchtern: «Vielleicht denken schon viele so wie wir, Tausende von Männern müssen schon gefallen sein. Vielleicht gibt es schon solche Kartenschreiber.
Aber das ist egal, Anna! Was geht es uns an? Wir tun dies!»
«Ja», sagt sie.
Und er, noch einmal hingerissen von den Aussichten des begonnenen Unternehmens: «Und wir werden die Polizei in Gang setzen, die Gestapo, die SS, die SA. Überall wird man von dem geheimnisvollen Kartenschreiber sprechen, sie werden fahnden, verdächtigen, beobachten, Haussuchungen machen - vergeblich! Wir schreiben weiter, immer weiter!»
Und sie: «Vielleicht werden sie dem Führer selbst solche Karten vorlegen - er selbst wird sie lesen, wir klagen ihn an! Er wird toben! Er soll doch immer gleich toben, wenn
was nicht nach seinem Willen geht. Er wird befehlen, uns zu finden, und sie werden uns nicht finden! Er wird weiter unsere Anklagen lesen müssen!»
Sie schweigen beide, beide geblendet von diesem Ausblick. Was waren sie eben noch? Unbekannte Existenzen, im großen, dunklen Gewimmel hatten sie mitgewimmelt.
Und nun sind sie beide ganz allein, getrennt, erhoben vor den andern, mit keinem von ihnen zu verwechseln. Es ist Eiseskälte um sie, so allein sind sie.
Und Quangel sieht sich in der Werkstatt stehen, wie immer im gleichen Getriebe, treibend und getrieben, den Kopf achtsam, ruckweise von Maschine zu Maschine gedreht. Für die wird er immer der olle doofe Quangel sein, nur von seiner Arbeit und seinem schmutzigen Geiz besessen. In seinem Kopf aber hat er Gedanken, wie sie keiner von ihnen hat. Jeder von ihnen würde vor Angst umkommen, wenn er solche Gedanken hätte. Er aber, der dußlige olle Quangel, er hat sie. Er steht da und täuscht sie alle.
Anna Quangel aber denkt jetzt an den Weg, den sie morgen beide gehen werden, die erste Karte fortzubringen. Sie ist etwas unzufrieden mit sich, daß sie nicht darauf bestanden hat, mit Quangel ins Haus hineinzugehen.
Sie überlegt, ob sie ihn nicht noch einmal darum bitten soll. Vielleicht. Im allgemeinen ist Otto Quangel durch Bitten
nicht umzustimmen. Aber vielleicht heute abend, da er so ungewöhnlich heiterer Laune zu sein scheint?
Vielleicht gleich jetzt?
Aber es dauert zu lange, bis sie sich entschlossen hat. Da merkt sie: Quangel ist schon eingeschlafen. So schickt auch sie sich an zu schlafen, sie wird sehen, ob es morgen paßt. Wenn es paßt, wird sie bestimmt fragen.
Und dann schläft auch sie ein.
Die erste Karte wird abgelegt
Sie wagt es erst auf der Straße, ihm davon zu sprechen, so wortkarg war Otto an diesem Vormittag. «Wo willst du die Karte hinbringen, Otto?»
Er antwortet mürrisch: «Sprich jetzt nicht davon. Nicht jetzt auf der Straße.»
Und dann setzt er doch noch widerwillig hinzu: «Ich ha-be mir ein Haus in der Greifswalder Straße ausgesucht.»
«Nein», sagt sie entschieden. «Nein, tu das nicht, Otto.
Das ist falsch, was du da tun willst!»
«Komm!» sagt er böse, denn sie ist stehengeblieben.
«Ich sage dir doch, nicht hier auf der Straße!»
Er geht weiter, sie folgt ihm und besteht auf ihrem Recht, mitzusprechen. «Nicht so in der Nähe unserer Wohnung», betont sie. «Wenn diese Sache denen in die Hände fällt, haben sie gleich einen Fingerzeig über die Gegend. Laß uns bis zum Alex runtergehen ...»
Er denkt nach, er überlegt. Vielleicht, nein, sicher hat sie recht. Man muß mit allem rechnen. Und doch, dieses plötzliche Umändern seiner Pläne paßt ihm nicht recht.
Wenn sie jetzt bis zum Alex laufen, wird die Zeit sehr knapp, und er muß doch zum Arbeitsbeginn zurechtkommen. Auch weiß er kein passendes Haus am Alex. Sicher gibt es dort viele, aber man muß das richtige erst suchen, und das tut er lieber allein als mit der Frau, die ihn dabei stört.
Dann, ganz plötzlich, entschließt er sich. «Gut», sagt er.
«Du hast recht, Anna. Gehen wir zum Alex.»
Sie sieht ihn dankbar von der Seite an. Sie ist glücklich, daß er auch einmal einen Ratschlag von ihr angenommen hat. Und weil er sie eben grade so glücklich gemacht hat, will sie ihn nicht noch um das andere bitten, daß sie mit ihm ins Haus gehen darf. Nun gut, soll er allein gehen.
Sie wird während des Wartens auf seine Rückkehr ein bißchen ängstlich sein - aber warum eigentlich? Sie zweifelt nicht einen
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