Jeder stirbt für sich allein
Schreibtisch und ißt langsam und gedankenvoll seine Frühstücksstullen. Als das Telefon klingelt, greift er nur zögernd danach. Noch ganz gleichgültig hört er die Meldung: «Hier Polizeirevier Frankfurter Allee. Kommissar Escherich?»
«Am Apparat.»
«Sie bearbeiten den Fall: Karte Unbekannt?»
«Ja. Was gibt's? Schnell ein bißchen!»
«Wir haben mit ziemlicher Sicherheit den Kartenverteiler gefaßt.»
«Bei der Verteilung?» «Nahezu. Er leugnet natürlich.» «Wo haben Sie ihn?» «Noch bei uns auf dem Revier.»
«Behalten Sie ihn dort, ich bin mit meinem Wagen in zehn Minuten bei Ihnen. Und: nicht weiter vernehmen!
Den Mann in Ruhe lassen! Ich will mit ihm selber sprechen. Verstanden?»
«Zu Befehl, Herr Kommissar!» «Ich komme dann!»
Einen Augenblick stand Kommissar Escherich fast reg-los über dem Telefon. Der Zufall - der gnädige, gute Zufall! Er hatte es ja gewußt, nur Geduld mußte man haben!
Er ging rasch zur ersten Vernehmung des Kartenverteilers.
Ein halbes Jahr danach: Enno Kluge
Der Feinmechaniker Enno Kluge saß ungeduldig wartend im Vorzimmer eines Arztes. Er saß dort mit noch andern dreißig oder vierzig Wartenden. Eine stets gereizte Sprechstundenhilfe rief eben die Nummer 18 aus, Enno aber hatte die Nummer 29. Er würde noch über eine Stunde sitzen müssen, und in der Kneipe «Ferner liefen»
wartete man schon auf ihn.
Enno Kluge konnte es nicht länger beim Sitzen aushalten.
Er wußte gut, er durfte nicht eher gehen, bis der Arzt da vorn ihn krank geschrieben hatte, sonst gab es Stunk in der Fabrik. Aber eigentlich konnte er gar nicht länger warten, sonst war es zu spät, noch seine Rennwetten abzuschließen.
Enno will im Wartezimmer auf und ab gehen. Aber da-für ist es viel zu voll, er wird angeschnauzt. So zieht er sich auf den Flur zurück, und als ihn die Sprechstundenhilfe dort entdeckt und sehr gereizt auffordert, ins Wartezimmer zurückzugehen, fragt er sie nach der Toilette.
Sie zeigt sie ihm widerspenstig genug, und sie will auch abwarten, bis der Mann wieder herauskommt. Aber dann geht die Flurklingel ein paarmal kurz nacheinander, und sie muß den 43., den 44., den 45. Patienten empfangen, sie hat Personalien aufzunehmen, Kartothekkarten auszufüllen, Krankenscheine zu stempeln.
So geht das vom frühen Morgen bis in die späte Nacht.
Sie ist halbtot, der Arzt ist halbtot, und nie verläßt sie mehr dieser unselige Zustand dauernder Gereiztheit, in dem sie nun schon Wochen und Wochen ist. In diesem Zustand hat sie einen wahren Haß auf diesen immer weiter fließenden Strom von Patienten geworfen, die sie nie mehr zur Ruhe kommen lassen, die schon morgens um acht Uhr, wenn sie kommt, geduldig an der Tür stehen, und die noch abends um zehn im Wartezimmer herum-hocken, es mit ihren üblen Gerüchen erfüllend: alles Drückeberger von der Arbeit, Drückeberger von der Front, Menschen, die sich auf eine ärztliche Bescheini-gung mehr Lebensmittel, bessere Lebensmittel erschlei-chen wollen. Alles Leute, die sich von ihren Pflichten drücken wollen, sie aber kann das nicht. Sie muß hier aushalten, darf nicht krank sein (was finge denn der Doktor ohne sie an?), sie muß noch freundlich sein zu diesen Heuchlern, die alles schmutzig machen, vollschleimen, vollkotzen! Auf der Toilette liegt immer alles voll Zigaret-tenasche.
Dabei fällt ihr der kleine Schleicher ein, dem sie vorhin die Toilette hat zeigen müssen. Sicher sitzt der noch immer da und qualmt Zigaretten. Sie springt auf, rennt hinaus, rüttelt an der Tür.
«Besetzt!» ruft es von drinnen.
«Wollen Sie wohl machen, daß Sie da runterkommen!»
fängt sie zornig zu schelten an. «Denken Sie, Sie können da Stunden und Stunden sitzen? Andere Leute möchten auch die Toilette benutzen!»
Sie wirft dem an ihr vorbeischleichenden Kluge zornig die Worte nach: «Natürlich alles wieder vollgequalmt! Ich werde dem Herrn Doktor erzählen, wie krank Sie sind!
Sie sollen mal was erleben!»
Entmutigt lehnt Enno Kluge im Sprechzimmer gegen die Wand - sein Stuhl ist unterdes auch besetzt worden.
Der Arzt ist inzwischen bis Nummer 22 gekommen.
Wahrscheinlich ganz sinnlos, hier noch weiter zu warten.
Das Biest da draußen ist imstande, den Arzt aufzuhetzen, daß er ihn wirklich nicht krank schreibt. Und was dann?
Dann funkt es draußen in der Fabrik! Er fehlt nun schon mal wieder den vierten Tag; die sind imstande und schik-ken ihn wirklich noch in eine Strafkompanie oder in ein KZ -imstande sind die
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