Jeffery Deaver - Der Insektensammler1.doc
können, ohne mir in die Augen schauen zu müssen und ohne dass Ihr zart besaitetes Gemüt aus dem Gleichgewicht gerät.« Der breitschultrige junge Mann stand stocksteif da.
»Also, Sir, das finde ich jetzt aber wirklich ungerecht!«
»Quatsch. Wird höchste Zeit, dass ich die Samthandschuhe ausziehe...« Rhyme lachte bissig.
»Wie gefällt Ihnen diese Metapher? Ich und die Handschuhe ausziehen? Allzu schnell schaffe ich so was nicht, was?... Wie finden Sie diesen Krüppelwitz?« Ben wollte unbedingt weg - die Flucht ergreifen -, doch seine kräftigen Beine waren wie angewurzelt.
»Ich habe keine ansteckende Krankheit«, blaffte Rhyme.
»Meinen Sie etwa, Sie könnten sich was holen? So funktioniert das nicht. Sie laufen hier herum und tun so, als müsste man Sie in einem Rollstuhl wegkarren, weil Sie die Luft hier einatmen. Verflucht, Sie haben ja sogar Angst, dass es Ihnen genauso ergehen könnte wie mir, wenn Sie mich nur anschauen!«
»Das ist nicht wahr!«
»Nein? Ich glaube schon... Wieso jage ich Ihnen eigentlich so einen Heidenschreck ein?«
»Tun Sie nicht«, knurrte Ben.
»Überhaupt nicht!«
»O doch«, wetterte Rhyme.
»Ihnen graut richtig davor, mit mir in einem Zimmer zu sein. Sie sind ein verfluchter Feigling.« Der Hüne beugte sich vor, Speicheltropfen flogen von seinen Lippen, sein Kinn bebte.
»Sie können mich mal, Rhyme!«, schrie er. Einen Moment lang war er sprachlos vor Wut. Dann fuhr er fort.
»Ich komm hierher, weil ich meiner Tante einen Gefallen tun will. Es wirft meine ganze Planung über den Haufen, und ich kriege keinen Pfennig dafür! Ich hör mir an, wie Sie hier die Leute rumkommandieren und sich aufführen wie eine beschissene Primadonna. Ich meine, verflucht noch mal, ich weiß nicht, wo Sie herkommen, Mister...« Er verstummte und schaute mit zusammengekniffenen Augen auf Rhyme, der laut loslachte.
»Was ist los?«, blaffte Ben.
»Was, zum Teufel, gibt's da zu lachen?«
»Sehen Sie, wie einfach das ist?«, fragte Rhyme, der jetzt kicherte. Thom konnte sich mit Mühe das Grinsen verkneifen. Schwer atmend richtete Ben sich auf und wischte sich den Mund ab. Wütend, wachsam. Er schüttelte den Kopf.
»Was meinen Sie damit? Was ist einfach?«
»Mir in die Augen zu schauen und mir zu sagen, dass ich ein Arsch bin«, fuhr Rhyme ruhig und gelassen fort.
»Ben, ich bin ein Mensch wie jeder andere auch. Ich kann es nicht leiden, wenn mich die Leute behandeln wie eine Porzellanpuppe. Und ich weiß ganz genau, dass Sie auch nicht ständig das Gefühl haben wollen, Sie könnten mir was antun.«
»Sie haben mich reingelegt. Sie haben das alles bloß gesagt, um mich auf die Palme zu bringen.«
»Sagen wir mal so: um zu Ihnen durchzudringen.« Rhyme war sich nicht sicher, ob aus Ben jemals ein Henry Davett werden würde - ein Mann, der sich nur um das Wesentliche, den Geist eines Menschen scherte und das Drumherum gar nicht wahrnahm. Aber er hatte es zumindest geschafft, dem Studenten einen Anstoß zu geben, einen Schubs, der ihn ein paar Schritte weiterbrachte, vielleicht sogar zur Vernunft.
»Ich sollte durch die Tür dort gehen und nie mehr zurückkommen.«
»Eine Menge Menschen würden das tun, Ben. Aber ich brauche Sie. Sie sind gut. Sie haben ein Gespür für die Forensik. Nun denn, kommen Sie. Das Eis ist gebrochen. Machen wir uns wieder an die Arbeit.« Ben spannte Die Welt im Kleinen in das Umblättergerät. Dabei warf er Rhyme einen kurzen Blick zu und fragte:
»Es gibt also wirklich Menschen, die Ihnen in die Augen sehen und Sie einen Mistkerl nennen?« Rhyme, der auf den Umschlag des Buches starrte, überließ Thom die Antwort.
»Oh, sicher«, sagte der.
»Natürlich erst, nachdem sie ihn kennen gelernt haben.« Lydia war nach wie vor nur dreißig Meter von der Mühle entfernt. Sie lief, so rasch sie konnte, auf den Pfad zu, der sie in die Freiheit führen würde, doch ihr schmerzender Knöchel behinderte sie beim Gehen. Außerdem kam sie nur langsam voran - um sich leise durchs Unterholz fortzubewegen, braucht man beide Hände. Sie aber konnte kaum das Gleichgewicht halten, so wie manche Hirngeschädigten, mit denen sie in der Klinik zu tun hatte, konnte nur von einer Lichtung zur nächsten torkeln und machte weitaus mehr Lärm, als sie wollte. In weitem Bogen umging sie die Vorderseite der Mühle. Hielt inne. Keine Spur von Garrett. Kein Ton, abgesehen vom Rauschen des umgeleiteten Wasserlaufs, der sich in den rotbraunen Sumpf ergoss. Fünf Schritte
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