Jeffery Deaver - Der Insektensammler1.doc
Rauschgiftmischer.« Ned Spoto trank einen Schluck Wasser.
»Manchmal ruft jemand bei uns an«, sagt er.
»Sagt, da und dort hat er Schüsse gehört, irgendwelche Schreie, Hilferufe, merkwürdige Lichter, so als ob jemand Blinkzeichen gibt. Und dergleichen mehr. Aber wenn wir ausrücken, finden wir nichts... Weder Leiche noch Täter, keinen Betroffenen und schon gar keinen Zeugen. Manchmal finden wir eine Blutspur, aber die führt nirgendwo hin. Wir kümmern uns darum - müssen wir ja -, aber niemand aus unserer Dienststelle geht allein in diese Gegend.«
»Hier draußen kriegt man eine andere Einstellung«, sagte Jesse.
»Man hat das Gefühl - so komisch das vielleicht klingt -, als ob alles ganz anders ist, verkommener. Ich nehm lieber zwei zugedröhnte Kids fest, die schwer bewaffnet einen Supermarkt überfallen, als dass ich hierher fahre. Dort gelten wenigstens gewisse Regeln. Man weiß, was man zu erwarten hat. Hier draußen...« Er zuckte mit den Achseln. Lucy nickte.
»Das stimmt. Und nördlich des Paquo hält sich niemand mehr an die Regeln. Hier heißt es bloß noch, die oder wir. Hier kann's passieren, dass man jemand niederschießt, ohne ihm auch nur seine Rechte vorzulesen, und das geht völlig in Ordnung. Schwer zu erklären.« Sachs gefiel dieses ungute Geraune ganz und gar nicht. Wenn die drei Deputys nicht so ernst und nervös gewirkt hätten, hätte sie gedacht, sie wollten dem Mädchen aus der Großstadt lediglich Angst einjagen. Schließlich blieben sie an einer Stelle stehen, an der drei verschiedene Wege weiterführten. Sie liefen jeden etwa fünfzehn Meter weit ab, fanden aber keinerlei Spuren von Garrett und Lydia. Sie kehrten zur Abzweigung zurück. Rhymes Worte gingen ihr durch den Kopf. Sei vorsichtig, Sachs, aber halte dich ran. Ich glaube, Lydia bleibt nicht mehr viel Zeit. Halte dich ran... Aber sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie sich ranhalten sollte. Sie wusste ja nicht mal, wie es weiterging, und auf diesem ausgetrampelten Pfad konnte kein Mensch, nicht einmal Lincoln Rhyme feststellen, welche Richtung die Gesuchten eingeschlagen hatten. Dann klingelte ihr Handy, und sowohl Lucy als auch Jesse Corn schauten sie erwartungsvoll an, so als hofften sie wie Sachs, dass Rhyme ihnen einen Anhaltspunkt geben könnte, in welche Richtung sie sich wenden sollten. Sachs meldete sich, hörte eine Zeit lang zu und nickte dann. Beendete das Gespräch. Sie atmete tief durch und schaute die drei Deputys an.
»Was gibt's?«, fragte Jesse Corn.
»Lincoln und Jim haben gerade eine Nachricht aus dem Krankenhaus bekommen. Es geht um Ed Schaeffer. Offenbar ist er kurz aufgewacht und hat gesagt: >lch liebe meine Kinder.< Und dann ist er gestorben... Er hat zuvor irgendwas gesagt, was wie >oliv< klang, sodass sie dachten, er meint vielleicht eine Olive Street, aber allem Anschein nach wollte er bloß >ich liebe< sagen. Das ist alles, so Leid es mir tut.«
»Ach herrje«, murmelte Ned. Lucy senkte den Kopf, und Jesse legte ihr den Arm um die Schulter.
»Was machen wir jetzt?«, fragte er. Lucy blickte auf. Sachs sah, dass ihr Tränen in den Augen standen.
»Wir schnappen uns den Jungen, was denn sonst«, sagte sie grimmig und entschlossen.
»Wir nehmen den Pfad, der uns am wahrscheinlichsten vorkommt, und folgen ihm, bis wir ihn finden. Und zwar schleunigst. Ist Ihnen das Recht?«, fragte sie Sachs, die nichts dagegen hatte, dass ihre Kollegin vorübergehend das Kommando übernahm.
»Selbstverständlich.«
... Fünfzehn
Lydia kannte diesen Blick. Hatte ihn schon zigmal bei Männern gesehen. Verlangend. Sehnsüchtig. Gierig. Herausfordernd manchmal, ohne dass derjenige wirklich etwas von einem wollte. Mitunter aber auch wie eine unbeholfene Liebeserklärung. Ein zu dick geratenes Mädchen war sie, mit dünnen, strähnigen Haaren und einem vernarbten Gesicht, weil sie in jungen Jahren so viele Pickel gehabt hatte, und sie glaubte, dass sie den Männern nicht viel zu bieten hätte. Aber sie wusste auch, dass sie eines von ihr wollten, ein paar Jahre lang zumindest, und sie hatte schon vor langer Zeit begriffen, dass sie die wenige Macht, die sie besaß, ausnützen musste, um halbwegs im Leben klar zu kommen. Und daher befand sich Lydia Johansson nun auf einer Spielwiese, die ihr bestens vertraut war. Sie waren wieder in der Mühle, in dem dunklen Büro, und Garrett war über sie gebeugt, sodass sie durch die kurzen Stoppelhaare den Schweiß auf seiner Kopfhaut glitzern sah. Sein
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