Jeffery Deaver - Der Insektensammler1.doc
und in das graue Nest einflogen, das Siegeszeichen ihres Peinigers. Lydia spürte den Boden des Gewässers unter ihren Füßen und stieß sich nach oben ab. Würgend und Wasser spuckend tauchte sie in einem sumpfigen Tümpel rund fünfzehn Meter unterhalb der Mühle auf. Da ihre Hände nach wie vor auf den Rücken gefesselt waren, musste sie mit aller Kraft Wasser treten. Sie zuckte vor Schmerz zusammen: Offenbar hatte sie sich an der hölzernen Schaufel des Wasserrades den Knöchel geprellt oder gebrochen, als sie in den Mühlbach gesprungen war. Aber das Wasser war hier rund zwei Meter tief, und wenn sie nicht mit den Füßen ruderte, musste sie ertrinken. Ihr Knöchel tat unheimlich weh, doch Lydia bot ihre ganze Willenskraft auf. Sie atmete Luft ein, rollte sich auf den Rücken und stellte fest, dass sie sich über Wasser halten und treiben lassen, mit dem heilen Fuß sogar in Richtung Ufer rudern konnte. Sie war kaum anderthalb Meter vorangekommen, als ihr etwas Kaltes, Glitschiges über den Nacken glitt, sich um ihren Kopf und das eine Ohr ringelte, sich zu ihrem Gesicht vorschob. Eine Schlange!, dachte sie voller Entsetzen. Und sie hatte wieder die Szene in der Notaufnahme vor Augen, als vor einem Monat ein Mann eingeliefert wurde, der von einer Wassermokassinschlange gebissen worden war - außer sich vor Schmerz, den Arm angeschwollen, fast doppelt so dick wie normal. Sie fuhr herum, und der zuckende Schlangenleib glitt über ihren Mund. Sie schrie auf. Und prompt ging sie unter, weil sie keine Luft mehr in der Lunge hatte, und schluckte Wasser. Spürte die Schlange nicht mehr. Wo ist sie bloß geblieben? dachte sie panisch. Ein Biss ins Gesicht konnte sie das Augenlicht kosten. Und wenn eine Halsschlagader getroffen wurde, war sie dem Tod geweiht. Wo? War sie über ihr? Gereizt und giftig? Bitte, bitte, hilf mir, dachte sie. Und möglicherweise hatte der Schutzengel ihr Flehen erhört. Denn als sie wieder auftauchte, war das Tier nirgendwo zu sehen. Schließlich konnte sie den sumpfigen Boden unter den Füßen spüren - sie trug nur mehr Strümpfe, denn die Schuhe hatte sie bei dem Sprung in die Tiefe verloren. Sie gönnte sich eine kurze Pause, atmete tief durch, versuchte sich zu beruhigen. Langsam watete sie zum Ufer, rutschte auf dem schlammigen, steil ansteigenden, mit modrigen Ästen und glitschigem Laub übersäten Boden immer wieder zurück, kaum dass sie sich zwei Schritte vorangekämpft hatte. Achte auf den Carolina-Lehm, ermahnte sie sich - da kommst du nicht mehr raus, der ist wie Treibsand. Sie wollte gerade aus dem Wasser steigen, als ein Schuss fiel, ein lauter Knall, ganz in der Nähe. Herrgott, Garrett hat eine Waffe! Er schießt auf mich! Sie ließ sich zurückfallen und tiefer sinken. Blieb so lange unten, wie sie konnte, aber schließlich musste sie doch auftauchen. Prustend und nach Atem ringend, reckte sie den Kopf und sah gerade noch, wie ein Biber mit dem Schwanz aufs Wasser schlug, hörte ein zweites Mal den trockenen Knall. Dann schwamm das Tier auf seinen Damm zu - ein mächtiges Bauwerk, gut fünfzig Meter breit. Sie hätte am liebsten laut aufgelacht, weil sie sich so ins Bockshorn hatte jagen lassen, doch sie beherrschte sich. Dann schleppte sich Lydia ins Schilf und sank zu Boden, wälzte sich würgend auf die Seite und spie einen Schwall Wasser aus. Fünf Minuten später war sie halbwegs wieder bei Atem. Sie setzte sich auf und schaute sich um. Garrett war nirgendwo zu sehen. Sie versuchte auf die Beine zu kommen. Wollte ihre Hände befreien, doch das Klebeband gab nicht nach, obwohl es durchweicht war. Von hier aus konnte sie den ausgeglühten Kamin der Mühle sehen. Sie orientierte sich daran und überlegte, in welche Richtung sie sich halten musste, um zu dem Pfad zu gelangen, der zum Südufer des Paquo zurückführte, nach Hause. Weit konnte er nicht entfernt sein; sie war nach dem Sprung in den Bach nur ein kurzes Stück von der Mühle abgetrieben worden. Aber Lydia konnte sich nicht von der Stelle rühren. Sie war wie gelähmt vor Angst, vor Hoffnungslosigkeit. Dann dachte sie an ihre Lieblingssendung im Fernsehen Mein Freund, der Engel -, und dabei fiel ihr wieder ein, wie sie das letzte Mal vor dem Apparat gesessen und sich die Serie angeguckt hatte. Die Folge war gerade zu Ende gewesen, als unverhofft die Haustür aufging und ihr Freund mit einem Sechserpack Bier aufgetaucht war. Er ließ sich so gut wie nie unangemeldet bei ihr blicken, und sie war außer sich Freude
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