Jeffery Deaver - Der Insektensammler1.doc
weiter, zehn. Komm schon, Schutzengel, dachte sie. Bleib noch ein bisschen bei mir. Steh mir bei. Bitte. Bloß noch ein paar Minuten, dann haben wir's hinter uns. Mann, o Mann, tut das weh. Sie fragte sich, ob der Knochen angeknackst war. Ihr Knöchel war angeschwollen, und sie wusste, dass sie ihn schonen musste, wenn er gebrochen war, sonst würde alles noch viel schlimmer werden. Die Haut verfärbte sich ebenfalls dunkel - das hieß, dass Blutgefäße geplatzt waren. Sie könnte sich eine Blutvergiftung zuziehen. Wundbrand sogar. Dann musste amputiert werden. Was würde ihr Freund dazu sagen? Vermutlich würde er sie verlassen. Ihre Beziehung war bestenfalls eher locker - zumindest von seiner Seite aus. Außerdem wusste sie von ihrer Arbeit in der Onkologie, wie rasch sich die Menschen von einem Patienten abwandten, sobald er irgendwelche Gliedmaßen verlor. Sie blieb stehen und lauschte, blickte sich um. Hatte Garrett die Flucht ergriffen? Hatte er sie aufgegeben und sich zu den Outer Banks abgesetzt, zu Mary Beth? Lydia schleppte sich weiter auf den Pfad zu, der zum Steinbruch zurückführte. Sobald sie darauf stieß, musste sie noch vorsichtiger sein wegen der Ammoniakfalle. Sie wusste nicht mehr genau, wo er sie aufgebaut hatte. Wieder dreißig Schritte... und da war er - der Pfad, der nach Hause führte. Sie hielt erneut inne, lauschte. Nichts. Sie bemerkte eine dunkle Schlange, die friedlich auf einem alten Zedernstumpf lag und sich sonnte. Mach's gut, dachte sie. Ich gehe nach Hause. Lydia marschierte los. Und dann schoss die Hand des Insektensammlers unter einem dichten Lorbeerbaum hervor und schlang sich um ihren heilen Knöchel. Da sie ohnehin nicht sicher auf den Beinen stand und überdies ihre Hände nicht gebrauchen konnte, blieb Lydia nichts anderes übrig, als sich auf die Seite zu drehen, so gut es ging, und mit ihrem kräftigen Hintern die Wucht des Aufpralls abzufangen. Die Schlange wachte durch ihren Schrei auf und verschwand. Garrett stieg über sie, das Gesicht rot vor Wut, und drückte sie zu Boden. Er musste schon seit einer Viertelstunde auf der Lauer gelegen haben. Still und ohne die geringste Bewegung, bis sie in Reichweite war. Wie eine Spinne, die auf ihr Opfer wartet.
»Bitte«, stieß sie aus, atemlos vor Schreck und entsetzt darüber, dass ihr Schutzengel sie im Stich gelassen hatte.
»Tu mir nichts -«
»Still«, fauchte er flüsternd und blickte sich um.
»Ich hab die Schnauze voll von dir.« Grob zog er sie auf die Beine. Er hätte sie am Arm fassen oder auf den Rücken wälzen und ihr dann aufhelfen können. Tat er aber nicht; er schlang von hinten den Arm um sie, fasste ihr über die Brüste und hob sie hoch. Sie ekelte sich, als sie seinen straffen Leib spürte, der sich an ihrem Rücken und am Hintern rieb. Nach einer halben Ewigkeit, so jedenfalls kam es ihr vor, ließ er sie endlich los, schlang aber seine knochigen Finger um ihren Arm und zog sie hinter sich her Richtung Mühle, ohne sich um ihr Schluchzen zu kümmern. Er hielt nur einmal kurz inne, um einen langen Zug Ameisen zu mustern, die winzige Eier quer über den Pfad schleppten.
»Tu ihnen nichts«, murmelte er. Und passte genau auf, wohin sie trat. Mit einem Ton, der Rhyme immer an das Schleifen eines Schlachtermessers erinnerte, schlug das Umblättergerät eine weitere Seite von Die Welt im Kleinen auf, Garretts Lieblingsbuch, den abgegriffenen Kanten nach zu urteilen. Insekten sind zu erstaunlichen Leistungen in der Kunst des Überlebens fähig. Der Birkenspanner zum Beispiel ist von Natur aus weiß, doch im britischen Industriegebiet rund um Manchester verfärbte sich diese Art und wurde schwarz, um sich an den Ruß auf den vormals weißen Bäumen anzupassen, wodurch sie weniger auffiel und besser vor ihren Feinden geschützt war. Rhyme tippte mit seinem getreuen linken Ringfinger die elektrische Steuerung an und blätterte ein paar Seiten weiter - wieder das Zischen, wie ein Wetzstein auf einer Stahlklinge. Er las die Stellen, die Garrett angestrichen hatte. Der Absatz über den Ameisenlöwen hatte den Suchtrupp vor einer der Fallen des Jungen bewahrt, und Rhyme wollte sehen, ob sich den Büchern noch weitere Hinweise entnehmen ließen. Ben Kerr, seines Zeichens Fischpsychologe, hatte ihm erklärt, dass tierisches Verhalten dem Menschen oftmals als Vorbild dient - vor allem, wenn es ums Überleben geht. Gottesanbeterinnen reiben ihren Hinterleib an den Flügeln und erzeugen dadurch unheimliche Töne, die
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