Jeffery Deaver - Der Insektensammler1.doc
senkte die Waffe und trat einen Schritt vor. Garrett hatte nach wie vor das Messer in der Hand. Drehte den Kopf hin und her. Die Frau ging einen weiteren Schritt auf ihn zu. Ach, dich können wir gerade noch gebrauchen, du Miststück.
»Steht sie dir im Schussfeld?«
»Nein. Aber ich meine«, sagte Nathan,
»wir sollten eigentlich gar nicht hiersein.«
»Darum geht's jetzt nicht«, zischte Mason.
»Wir sind nun mal hier. Ich hab den Auftrag, den Suchtrupp zu decken, und ich befehle dir hiermit zu schießen. Hast du schon entsichert?«
»Ja, hab ich.«
»Dann schieß.« Das Ziel erfassen. Mason sah, wie der Lauf des Ruger zur Ruhe kam, als Nathan förmlich mit der Waffe verschmolz. Mason hatte das schon öfter gesehen - wenn er mit Freunden, die weit bessere Schützen waren als er, auf die Jagd ging. Es war etwas Unheimliches, das er nicht ganz begriff. Man wird eins mit der Waffe, unmittelbar bevor sich der Schuss löst, fast wie von selbst. Mason wartete auf den donnernden Knall des langen Gewehrs. Kein Windhauch. Ein deutliches Ziel. Freies Schussfeld. Schieß, los, schieß schon! befahl er stillschweigend. Doch statt eines Gewehrschusses hörte er einen Seufzer. Nathan senkte den Kopf.
»Ich kann nicht.«
»Gib mir die Scheißknarre.«
»Nein, Mason. Komm schon.« Doch der Scharfschütze verstummte, als er die Miene und den Blick des leitenden Deputy sah, reichte ihm die Waffe und rollte sich zur Seite.
»Wie viele sind im Magazin?«, blaffte Mason ihn an.
»Ich -«
»Wieviel Schuss sind im Magazin?«, fragte Mason, als er sich auf den Bauch legte und die gleiche Stellung einnahm wie kurz zuvor sein Kollege.
»Fünf. Aber, und das ist nicht persönlich gemeint, Mason, du bist nicht gerade der beste Schütze, und da stehen drei Unschuldige im Schussfeld, und wenn du...« Er verstummte. Brachte den Satz nicht zu Ende, weil er wusste, worauf es hinauslaufen würde, und er nichts damit zu tun haben wollte. Schon wahr, er war nicht unbedingt der beste Schütze, das wusste Mason sehr wohl. Aber er hatte auch schon gut hundert Stück Rotwild erlegt. Und auf dem Schießstand der Staatspolizei in Raleigh hatte er hervorragende Ergebnisse erzielt. Außerdem ging es überhaupt nicht darum, ob er gut schießen konnte oder nicht -Mason wusste nur, dass der Insektensammler sterben musste, und zwar auf der Stelle. Auch er versuchte so ruhig wie möglich zu atmen, krümmte den Finger um den geriffelten Abzug. Und stellte fest, dass Nathan gelogen hatte - er hatte das Gewehr gar nicht entsichert. Wütend legte Mason den Hebel um und konzentrierte sich wieder aufs Ein-und Ausatmen. Einmal, zweimal. Er hatte das Gesicht des Jungen genau im Fadenkreuz. Der Rotschopf ging wieder auf Garrett zu, und einen Moment lang hatte er ihre Schulter im Visier. Herr im Himmel, du machst es mir schwer, gute Frau. Sie war kurz außer Sicht. Dann tauchte wieder ihr Hals mitten im Zielfernrohr auf. Sie schwenkte nach links, blieb aber immer noch im Fadenkreuz. Einatmen, ausatmen. Mason achtete nicht darauf, dass seine Hände stärker zitterten, als sie eigentlich sollten - er konzentrierte sich auf das fleckige Gesicht, nahm es ins Visier. Senkte das Zielfernrohr, bis das Fadenkreuz auf Garretts Brust stand. Einmal mehr geriet ihm die rothaarige Polizistin ins Schussfeld. Dann verzog sie sich wieder. Er wusste, dass er ruhig und sacht abdrücken musste. Aber wie schon so oft in seinem Leben packte ihn die Wut, und er hatte sich nicht mehr in der Hand. Ruckartig riss er den Abzug durch.
... Sechzehn
Hinter Garrett spritzte die Erde auf, und er fasste sich an das Ohr, an dem die Kugel vorbeigezischt war. Auch Sachs hatte sie wahrgenommen. Im nächsten Moment hallte ein Gewehrschuss auf der Lichtung wider. Sachs fuhr herum. Lucy oder Jesse konnten den Schuss nicht abgegeben haben - dem Knall nach zu schließen, der erst kurz nach dem Einschlag zu vernehmen war, musste er etwa hundert Meter weiter hinten abgefeuert worden sein. Die Deputys schauten ebenfalls nach hinten, hatten die Waffen erhoben und versuchten den Schützen auszumachen. Sachs, die in die Hocke gegangen war, warf einen Blick auf Garretts Gesicht und sah seine Augen - sah, wie entsetzt und durcheinander er war. Einen Moment lang, nur für den Bruchteil einer Sekunde, war er kein Mörder mehr, der einem anderen Jungen den Schädel eingeschlagen hatte, und auch kein Sexualverbrecher, der Mary Beth verletzt und vergewaltigt hatte. Er war nur noch ein verängstigter Junge, der
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