Jeffery Deaver - Der Insektensammler1.doc
die so schnell hergekommen?« Er beugte sich zu ihr herab. Noch nie hatte sie jemand mit einem derart wütenden, hasserfüllten Blick angesehen.
»Hast du irgendwas auf dem Weg hinterlassen? Eine Nachricht vielleicht?« Sie schreckte zurück, überzeugt, dass er sie umbringen würde. Er schien völlig außer sich zu sein.
»Nein! Ich schwor's! Bestimmt nicht.« Garrett kam auf sie zu. Lydia wich zurück, doch er lief rasch an ihr vorbei. Er war wie von Sinnen, zerriss den Stoff, als er sein Hemd und die Hose auszog, die Unterwäsche, die Socken. Sie starrte auf seinen hageren Leib, seinen stattlichen Penis, der nur leicht erschlafft war. Nackt stürmte er in die andere Ecke des Zimmers. Dort lagen ein paar zusammengefaltete Kleidungsstücke auf dem Boden. Er zog sie an. Schuhe ebenfalls. Lydia reckte den Kopf und sah aus dem Fenster, durch das der Chemikaliengeruch drang. Diese Falle war also keine Bombe gewesen - er hatte das Ammoniak als Waffe benutzt. Es hatte sich über den Suchtrupp ergossen und alle, die davon getroffen worden waren, verätzt und geblendet.
»Ich muss zu Mary Beth«, fuhr Garrett flüsternd fort.
»Ich kann nicht laufen«, sagte Lydia schluchzend.
»Was hast du mit mir vor?« Er zog ein Klappmesser aus der Hosentasche. Ließ es mit einem lauten Klicken aufschnappen. Drehte sich zu ihr um.
»Nein, nein, bitte...«
»Du bist verletzt. So kannst du nicht mit mir mithalten.« Lydia starrte auf die Klinge. Sie war fleckig und schartig. Ihr Atem ging flach und keuchend. Garrett kam näher, und Lydia fing an zu schreien. Wie sind sie so schnell hierher gekommen?, fragte sich Garrett Hanion wieder und wieder, als er durch die Tür der Mühle stürmte und zu dem Wasserlauf rannte. Wie so oft verspürte er die panische Angst, die ihm schier die Luft abschnürte und in seiner Brust brannte wie der Giftsumach auf seiner Haut. Seine Feinde waren innerhalb von ein paar Stunden von Blackwater Landing zur Mühle gelangt. Er konnte es nicht fassen - er hatte gedacht, sie würden mindestens einen Tag brauchen, vielleicht sogar zwei, bis sie seine Spur fanden. Er blickte zu dem Pfad, der vom Steinbruch hierher führte. Sie waren nirgendwo in Sicht. Er wandte sich in die entgegengesetzte Richtung und lief langsam einen anderen Weg entlang - der hier führte vom Steinbruch weg, den Bach entlang, fort von der Mühle. Er schnipste mit den Nägeln, fragte sich immer wieder: Wie, wie haben sie das bloß geschafft? Ruhig, sagte er sich. Er hatte jede Menge Zeit. Die Polizisten rückten vermutlich langsam vor, behutsam wie ein Mistkäfer, der seine Kugel hinter sich herrollt, weil sie weitere Fallen befürchteten, nachdem die Ammoniakflasche auf den Felsen zerplatzt war. In ein paar Minuten war er im Sumpf, und dorthin konnten sie ihm nicht folgen. Nicht mal mit Hunden. In acht Stunden konnte er bei Mary ßeth sein. Er Dann blieb Garrett stehen. Neben dem Pfad lag eine leere Plastikflasche. Sie sah aus, als hätte sie jemand weggeworfen. Er schnupperte, hob die Flasche auf, roch hinein. Ammoniak! Ein Bild ging ihm durch den Kopf - eine Fliege, die sich in einem Spinnennetz verfangen hat. Mist!, dachte er. Sie haben mich ausgetrickst! Eine barsche Frauenstimme ertönte.
»Stehen bleiben, Garrett.« Eine hübsche rothaarige Frau in Jeans und schwarzem T-Shirt trat aus dem Gebüsch. Sie hatte eine Pistole, die genau auf seine Brust gerichtet war. Ihr Blick wanderte zu dem Messer, dann wieder zu seinem Gesicht.
»Er ist hier drüben«, rief die Frau.
»Ich habe ihn.« Dann senkte sie die Stimme und schaute Garrett in die Augen.
»Mach, was ich dir sage, dann passiert dir nichts. Ich möchte, dass du das Messer wegwirfst und dich auf den Boden legst. Gesicht nach unten.« Doch der Junge legte sich nicht hin. Er stand nur reglos da, ließ geknickt die Schultern hängen und schnipste krampfhaft mit Daumenund Zeigefingernagel der linken Hand. Er wirkte völlig verängstigt und verzweifelt. Amelia Sachs warf erneut einen Blick auf das fleckige Messer, das er fest in der Hand hielt. Sie hatte den Smith & Wesson weiterhin auf Garretts Brust gerichtet. Ihre Augen brannten von dem Ammoniak und vom Schweiß. Sie wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht.
»Garrett...« Sie sprach ruhig.
»Leg dich hin. Niemand wird dir was tun, wenn du machst, was wir dir sagen.« In der Ferne hörte sie Schreie.
»Ich hab Lydia«, rief Ned Spoto.
»Sie ist unversehrt. Mary Beth ist nicht hier.«
»Wo, Amelia?«, rief Lucy.
»Auf
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