Jemand Anders
Petrus vor dem zweiten Hahnenschrei? Nein, nicht halb so biblisch: Ein Heimatloser bin ich gewesen, solange ich denken kann. Die Wandlinger Mundart – ich hab mich immer geweigert, das dumpfe Geseire in unserem Dorf mit einem so hehren Begriff wie Dialekt zu belegen – habe ich zwar erst mit achtzehn aufgegeben, in jenem euphorischen Herbst 1965, als ich auf die Uni nach Passau ging und von einem Tag auf den anderen ins hochsprachliche Lager wechselte, was man mir zuhause, wäre es bekannt geworden, als schlimmen Verrat ausgelegt hätte. Die wärmende Gemeinschaftsdecke aber, unter der sich meine Altersgenossen zusammenkuschelten wie eine Habichtsbrut, habe ich schon viel früher abgestreift. Habe bald gespürt, dass diese Decke gewoben ist aus Fäden des Neids, der Heimtücke, des Herumhackens auf Schwächeren. Unter der ausgeheckt wird, wer als Nächster an den Marterpfahl kommt. Und unter der man sich versteckt, wenn einem ein Stärkerer, der Rächer irgendeiner Missetat, auf den Fersen ist. Ich habe sie, die selbst ernannten Ritter , wegen dieser Decke immer verachtet, und zum Ausgleich verachteten sie mich. Weil ich mich allen Mutproben und Männlichkeitsbeweisen entzog. Weil ich mich immer rechtzeitig aus dem Staub machte, bevor ich in irgendetwas hineingeraten konnte.
Zum Beispiel, wenn sie ihre grandiosen Turniere ausfochten. Schau wenigstens zu! Ich schaute nicht zu. Eine Bande von Rotzbuben bleibt eine Bande von Rotzbuben, auch wenn sie auf ritterlich macht. Was nach innen verbinden mag, grenzt nach außen umso schärfer ab. Das bekam man bei unseren Rittern jeden Tag auf das Unedelste vor Augen geführt. Demokratische Erwägungen waren wohl auch bei den echten Rittern nicht üblich, erst recht nicht bei den Raubrittern. Und als solche hätte man die kleine Dorfbande noch am ehesten bezeichnen können.
Anstatt hoch zu Ross kämpften Karli und Co. auf Drahteseln reitend, ausgestattet mit der neuen Torpedo-Dreigangnabenschaltung, Modell 415, ohne Rücktritt. Topmoderne und für damalige Verhältnisse sündteure Jugendräder waren es, die einem die eigenen Eltern nie und nimmer gekauft hätten. Am ehesten kam dafür der Firmpate in Frage. Erkundigte er sich unvorsichtigerweise bei seinem Schützling, was dieser sich denn als Geschenk zur Firmung wünsche, konnte man ja schon einmal vor der Auslage des Fahrradgeschäfts mit roten Ohren stehen bleiben und begehrlich darauf zeigen: auf das Objekt seiner Träume, funkelnd vor Schnittigkeit und Eleganz. Wurde einem Buben sein Traum erfüllt, erhöhte das den sozialen Druck auf jeden weiteren Göd . So kam es, dass sich auf der staubigen Dorfstraße von Wandling bald Grüppchen frisch gefirmter Zwölfjähriger auf ihren neuzeitlichen Kampfrössern versammelten, um in der Tradition mittelalterlicher Berittener aufeinander loszupreschen: die langen, hölzernen Wäschestangen eingelegt wie Lanzen, deren Spitzen sich beim Aufprall laut krachend in die gegnerischen Schilde bohrten, also in jene mit Phantasiewappen bemalten Obst- und Gemüsesteigen, welche man aus dem Kistendepot der Dorfgreißlerin geklaut hatte. Diesbezüglich gab es nie Nachschubprobleme.
Zerdroschene Holzsteigen, aufgeschürfte Knie und verbogene Räder als Beweis für Mut und Männlichkeit – mit solch rabiaten Ritualen wollte ich nichts zu tun haben. Kein Wunder, dass sie mich zum bevorzugten Opfer für ihre Spielchen auserkoren. Die fünf Stunden am Marterpfahl, alleine im Wald unter Myriaden von Gelsen, werde ich nie vergessen.
*
Was man von den letzten paar Wochen nicht eben behaupten kann. Dabei ist vergessen gar nicht der richtige Ausdruck.
Gelöscht käme der Sache schon näher.
Ich orte mein Gesicht im Spiegel des verschmierten Fensterglases, der Kragen meines weißen Rollkragenpullis hebt sich scharf ab vom diffusen Rest, wie das Kollar eines Priesters. Ich lehne mich zurück. Komfortabel sind sie geworden, die neuen Garnituren! Wenn ich das vergleiche mit jenen bockigen Bänken, auf denen man nicht wusste, wohin mit den Beinen. Fahrende Folterbänke mit dunkelgrünen Kunststoffbezügen, schmierig von Schweiß und Dreck. Und am nächsten Tag warst du unter Garantie gesegnet mit einer rotzigen Nase und einem belegten Hals, es musste ja immer so ein Idiot das Fenster aufreißen bei voller Fahrt. Hättest du etwas gesagt deswegen, sie hätten dir höchstens eine Ohrfeige angetragen.
Aber das ist natürlich schon lange her. Eine kleine Ewigkeit.
Egal, wie die Leute über das
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