Jene Nacht im Fruehling
Armeslänge von ihr zu entfernen und sie aus dieser Distanz zu betrachten. Sie trug etwas Strenges von der Stange - das war das einzige Wort, das ihm einfallen wollte, um den »Schick« ihrer Kleidung zu beschreiben - von marineblauer Farbe. Es war ein sehr hausbackenes Konfektionsstück mit einem Rock, der ihr bis weit über die Knie fiel, und einer Jacke mit weißem Krägelchen und weißen Manschetten. Irgendwie brachte es dieses unendlich langweilige und unscheinbare Kostüm fertig, jede Rundung ihres Körpers so vollkommen zu verbergen, daß Mike hätte glauben können, sie sei gerade wie ein Ladestock, wenn er sie nicht noch vor wenigen Minuten mit seinen Händen überall berührt und sich persönlich davon überzeugt hätte, was für einen phantastischen Körper sie besaß. Als er sie geküßt hatte, hatte seine Hand in ihrem Kreuz über einem köstlich gerundeten Hinterteil gelegen und war dann darüber hinweggefahren, an einem festen, perfekt geformten Schenkel entlang bis hinunter zu ihrem Knöchel und einem schlanken kleinen Fuß. Er hätte jede Wette angenommen, daß es unmöglich sei, einen so großartigen Körper unter noch so dicken Stoffbahnen zu verstecken, aber irgendwie hatte sie das dennoch fertiggebracht.
Als er nun ihr Gesicht betrachtete, stellte er fest, daß es eine Mischung von hübsch und niedlich war. Sie trug so gut wie kein Make-up, als wollte sie lieber von der Hübschheit ablenken, statt diese zu betonen. Es fiel ihm schwer, zu glauben, daß die Frau die er jetzt betrachtete, dieselbe war, die er noch vor wenigen Minuten geküßt hatte. Weder ihr Gesicht noch ihr Körper hatten nun etwas sexuell Anziehendes. In diesem formlosen Kostüm und mit dem straff zurückgekämmten Haar, das sie zu einem strengen und unglaublich braven Knoten aufgesteckt hatte, hätte er sie für die Mutter von einem halben Dutzend Kinder gehalten, die in einer Sonntagsschule unterrichtete. Aber er erinnerte sich sehr lebhaft daran, daß sie vor wenigen Minuten noch ganz anders ausgesehen hatte. Diese lustvolle, begehrenswerte, hungrige Schönheit, die seine Küsse erwidert hatte, war irgendwo in dieser Gestalt vor ihm verborgen.
Als er um die Vortreppe herumgerannt war, um den Fußball aufzufangen, hätte er sie fast niedergetrampelt, und aus einem Reflex heraus hatte er sie aufgefangen, ehe sie auf die Spitzen des Eisenzaunes fallen konnte. Er hatte den Mund geöffnet, um sie zu fragen, ob sie sich verletzt habe, aber als er ihr in die Augen geschaut hatte, waren ihm die Worte im Hals steckengeblieben; denn sie hatte ihn angesehen, als würde sie ihn für den schönsten, reizvollsten und begehrenswertesten Mann der Welt halten. Er hatte schon als Kind gewußt, wie anziehend er auf Mädchen wirkte, und sein gutes Aussehen, wo immer das möglich war, zu seinem Vorteil eingesetzt, doch keine Frau hatte ihn bisher so angesehen wie diese da.
Allerdings mußte er einräumen, daß er sie möglicherweise nicht viel anders angeschaut hatte, als sie ihn. Ihre großen hellblauen Augen hatten ihn voller Überraschung und Verlangen über einer zierlichen, kecken Nase hinweg angesehen, über einem Mund, der so süß und reizvoll war, daß er meinte, er müsse sterben, wenn er ihn nicht küßte.
Und er hatte diesen Mund geküßt, zaghaft zunächst, weil er sich nicht sicher war, ob er das auch durfte, denn er wollte nichts tun, was sie vertreiben konnte. Doch in dem Moment, als seine Lippen die ihren berührten, wußte er, daß er sich nicht mehr bremsen, sich nicht mehr zurückhalten konnte, denn keine Frau hatte ihn jemals so geküßt. Es war nicht nur Verlangen, das er in ihrem Kuß spürte, das war Hunger. Sie küßte ihn, als wäre sie jahrelang eingesperrt gewesen und nun, da sie wieder in die Freiheit entlassen war, er der Mann sei, den sie auf der Welt am meisten begehrte.
Jetzt, in diesem Augenblick, konnte Mike jedoch nicht verstehen, was in ihr vorging. Wie konnte sie ihn auf diese Weise küssen und ihn zehn Minuten später so wütend anfunkeln, als würde sie ihn verabscheuen? Oder, anders ausgedrückt: Wie konnte diese züchtige kleine Lady zugleich dieses berückende Wesen sein, das ein Bein über seine Taille gewickelt hatte?
Mike wußte darauf keine Antwort, doch in einem Punkt war er sich sicher: Er konnte sie nicht gehen lassen. Er mußte herausfinden, weshalb sie plötzlich den Wunsch hatte, von ihm wegzugehen, denn er für seinen Teil hätte sie jetzt am liebsten auf seine Arme gehoben, in sein Haus
Weitere Kostenlose Bücher