Jene Nacht im Fruehling
einjährige Strafe antrat, desto rascher konnte sie diese schreckliche Stadt wieder verlassen.
Sie holte tief Luft, zog ihren Rock glatt, vergewisserte sich, daß ihr Haar straff nach hinten gekämmt war, und legte den Zeigefinger auf den Klingelknopf.
2
Als der Mann auf ihr erstes Klingelzeichen hin die Tür öffnete, sah Samantha ihn einen Moment lang verdutzt an, weil sie ihn kaum wiedererkannte. Er trug jetzt ein sauberes blaues langärmeliges Hemd, das zwar nur teilweise zugeknöpft war, aber dennoch einen adretten Eindruck machte, eine locker gebundene Seidenkrawatte, eine dunkelblaue Kammgarnhose und makellos polierte Halbschuhe. Die Stoppeln seines Drei-Tage-Bartes waren verschwunden, und sein widerspenstiges, gewelltes schwarzes Haar war in einer konservativen Frisur mit sauber gezogenem Scheitel gebändigt. Binnen weniger Minuten hatte er sich aus einem sexuell aufreizenden und ziemlich gefährlichen Anführer einer Bande von jungen Rowdies in das Ebenbild eines erfolgreichen Bankers an seinem freien Tag verwandelt.
»Hallo! Sie müssen Miss Elliot sein«, sagte er, ihr seine Rechte hinstreckend. »Ich bin Michael Taggert. Willkommen in New York.«
»Bitte, geben Sie mir meine Reisetasche zurück.« Sie übersah seine ausgestreckte Hand. »Ich möchte jetzt gehen.«
Lächelnd und sich so benehmend, als hätte sie keinen Ton von sich gegeben, machte Mike einen Schritt zur Seite. »Bitte, treten Sie doch ein. Ihre Wohnung ist schon für Sie vorbereitet.«
Samantha wollte das Haus dieses Mannes nicht betreten. Sie fand es außerordentlich beunruhigend, daß er seine Erscheinung so rasch und so vollkommen verändern und binnen weniger Minuten aus der Rolle eines Muskelprotzes, der den Eindruck machte, als habe er in seinem Leben nichts Intelligenteres getan, als ein paar Fußballregeln auswendig zu lernen, in die eines jungen Professors schlüpfen konnte. Wenn sie zuerst diesem Mann begegnet wäre, hätte sie niemals etwas anderes hinter ihm vermutet als das, was er zu sein schien. Jetzt aber war sie sich nicht sicher, wer nun der wirkliche Mr. Taggert war.
Da sah Samantha ihre Reisetasche am Fuß der Treppe stehen und ging rasch ins Haus, um sie zu holen. Als ihre Hand die Henkel der Tasche berührte, hörte sie, wie hinter ihr die Haustür ins Schloß fiel. Sie drehte sich wütend, die Lippen zu einem Strich zusammenpressend, zu Mike um, aber der wich ihrem Blick aus.
»Möchten Sie erst das Haus oder Ihre Wohnung besichtigen?«
Sie wollte weder das eine noch das andere, aber er stand vor der Tür - so breit und so groß wie ein Felsblock vor einem Höhleneingang - und versperrte ihr den Weg nach draußen. »Ich möchte weg von hier. Ich möchte . . .«
»Also dann zuerst das Haus«, sagte er mit munterer Stimme. »Es wurde in den zwanziger Jahren erbaut. Das genaue Datum kenne ich nicht, aber wie Sie sehen können, weisen alle Räume noch ihre ursprüngliche Stuckornamentik auf.«
Da sie sich nicht mehr von ihrer Reisetasche trennen wollte, blieb sie am Fuß der Treppe stehen.
Doch Mike zwang sie nun, obwohl sie sich sträubte, an der Besichtigungstour teilzunehmen, indem er ihr die Hand auf den Ellenbogen legte und sie teils ziehend, teils schiebend aus der Vorhalle in das Wohnzimmer bugsierte. Sie fand sich in einem großen Raum wieder mit breiten, bequem aussehenden schwarzen Ledersesseln und einer Couch. Ein grober handgewebter Teppich bedeckte den Boden, Kunstgegenstände aus aller Welt waren stilsicher über den Raum verteilt, und zwei mächtige Palmen flankierten links und rechts die Fensterfront. An den Wänden hingen zahlreiche Masken neben chinesischen Rollbildern und balinesischen Malereien. Es war ein Herrenzimmer mit dunklen Farben, Leder und Gegenständen aus Holz - das Zimmer eines Mannes von Geschmack und Urteilsvermögen.
In der Tat hatte der Raum wenig Ähnlichkeit mit einem Bordell, wie sie das, nach dem ersten Eindruck von ihm, zunächst vermutet hatte. Und tatsächlich paßte auch der Mann, der nun neben ihr stand - der Mann, der wie ein Banker angezogen war - viel besser in dieses Zimmer als der Muskelprotz in der Turnhose, dem sie zuerst begegnet war.
Sich bewußt werdend, daß Mike ihr Gesicht betrachtete, spürte sie, daß er sich zu freuen schien über das, was er darin sah, denn der Druck seiner Hand auf ihrem Arm ließ nach. Immer noch widerstrebend, aber nicht mehr so wütend wie bisher, folgte sie ihm nun von Raum zu Raum, besichtigte ein Eßzimmer mit einem
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