Jene Nacht im Fruehling
gar nicht alle zählen kannst. Aber meine Angehörigen sind alle tot. Maxie und ich sind die einzigen, die von meiner Familie übriggeblieben sind, und sie liegt ganz allein in diesem schrecklichen Heim, während ich hier ... Und sie hat nicht mehr lange zu leben.«
Als sie zu zittern begann, nahm Mike sie in die Arme.
»Ruhig, Liebling. Es ist ja okay. Wir werden sie heute abend besuchen, wenn du möchtest.«
»Du mußt nicht mit mir hingehen, Mike.« Wie immer, fühlte sie sich auch jetzt sicher in Mikes Armen.
»Natürlich muß ich nicht«, erwiderte er, ihr Haar streichelnd. »Ich werde dich allein gehen lassen, damit du irgendwo in einer Drehtür hängenbleibst.«
Lächelnd blickte sie zu ihm auf. »Ich hoffte, du würdest mitkommen. Und jetzt verrate mir bitte«, sagte sie geschäftig, ihn von sich wegschiebend, »wie man Sidecars macht.«
»Samantha, du kannst ihr doch unmöglich Schnaps ins Pflegeheim mitbringen. Es widerstrebt mir zwar, dich daran zu erinnern, aber sie ist eine sehr kranke alte Dame. Ich glaube nicht, daß ihr Arzt ihr erlauben wird...«
Sie legte ihm rasch den Finger auf die Lippen. »Mein Großvater Cal pflegte zu sagen: Was kann einem denn noch schaden, wenn man weiß, daß man stirbt? Er hatte mit fünfzig aufgehört zu rauchen, aber an dem Tag, an dem sein Arzt ihm sagte, daß er nur noch wenige Wochen zu leben habe, kaufte er sich eine große Kiste sehr teurer Zigarren und rauchte täglich eine davon, bis er starb. Mein Vater gab ihm die Kiste mit den restlichen noch ungerauchten Zigarren mit ins Grab.«
Mike konnte sie nur anstarren. Sie hatte Dinge erlebt, an die er nicht einmal zu denken wagte. Sie war in einer Atmosphäre des Todes aufgewachsen, umgeben von sterbenden Menschen, und ihr Vater hatte von ihr, als sie noch ein Kind war, verlangt, in einem Haus mit verdunkelten Fenstern zu leben.
Ohne ein Wort zu sagen, griff er in das oberste Schrankfach und holte ein kleines gelbes Buch herunter, das sich als Sammlung von Cocktailrezepten entpuppte. »Laß mal sehen. Zu einem Sidecar braucht man Cointreau, Zitronensaft und Cognac. Ich denke, das haben wir alles reichlich im Haus.«
»Oh, Mike, ich liebe dich«, rief Samantha lachend und wurde dann ganz verlegen, weil sie das gesagt hatte.
Er blickte nicht von seinem Rezeptbuch auf. »Das möchte ich auch hoffen«, meinte er leichthin, als hätte das, was sie soeben gesagt hatte, keinerlei Bedeutung für ihn. Doch sein Hals schien sich ein bißchen dunkler zu färben, so, als wäre ihm das Blut ins Gesicht geschossen.
Samantha holte Zitronen aus dem Kühlschrank und suchte mit einem Wortschwall von ihrer Verlegenheit abzulenken: »Ich hoffe doch, daß uns das Pflegeheim keine Schwierigkeiten machen und uns erlauben wird, so lange wie möglich bei ihr zu bleiben. Weißt du, was ich machen möchte, Mike? Ich habe oben einen großen Karton mit Fotoalben und losen Fotos von meinem Vater, meiner Mutter, Großvater Cal und mir. Die möchte ich ihr zeigen. Die meisten davon wurden aufgenommen, nachdem Maxie uns verlassen hatte. Du meine Güte - Mike ich darf meine Großmutter ja nicht einmal mit ihrem richtigen Namen anreden, nicht wahr? Wie soll ich sie denn nur nennen, Mike?«
»Abby«, erwiderte Mike. »Solange sie nicht möchte, daß du erfährst, wer sie wirklich ist, solltest du sie mit Abby anreden. Und du darfst dir nicht anmerken lassen, daß du längst weißt, wer sie in Wirklichkeit ist. Die arme Frau denkt wahrscheinlich, sie müsse dir ihre wahre Identität verschweigen, weil sie sonst dein Leben gefährden würde und . . .«
Er hielt inne und starrte Sam an.
»Samantha«, er war plötzlich wieder ernst, »von Anfang an war es deine Absicht - oder vielmehr die Absicht deines Vaters -, herauszufinden, was aus deiner Großmutter geworden ist. Dieses Ziel hast du inzwischen erreicht. Du weißt, daß sie sich in einem Pflegeheim befindet und dort an Schläuchen und Apparaten hängt. Wenn du das schon gestern abend gewußt hast, warum sind wir dann heute morgen zu Jubilee gefahren, um uns bei ihm über Maxie zu erkundigen?«
»Ich weiß, wo sich Maxie befindet, aber nicht, warum sie dort ist«, erwiderte sie leise.
Mike stöhnte. »Samantha, ich bitte dich ...«
Sie wußte, daß es ihm keinesfalls recht war, wenn sie ihre Nachforschungen fortsetzte, aber je mehr sie über Doc und Maxie und Michael Ransome und Jubilee und wen es da sonst noch alles gab, erfuhr, um so mehr verlangte es sie danach, herauszufinden, was
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