Jene Nacht im Fruehling
Mike mit nüchterner Stimme, »und wir wüßten gern, was das gewesen ist.«
Jubilee wollte ihnen aber nichts über Maxie sagen. Er fuhr fort, auf dem Klavier zu spielen und Samantha zu fragen, ob sie dieses oder jenes Lied kenne, und beteuerte einige Male, er habe Maxie seit dem Abend des Massakers nie wiedergesehen. Als Samantha ihn fragte, ob er denn eine Vorstellung habe, warum Maxie in jener Nacht verschwunden sei, murmelte er, nein, die habe er nicht.
Einhundertundeins Jahre alt, dachte Samantha bei sich, und er hatte noch immer nicht gelernt, überzeugend zu lügen. In Gedanken versuchte sie sich bereits auszurechnen, wie oft sie wohl noch herkommen müsse, bevor Jubilee sich bereitfand, ihr zu sagen, was er über Maxie wußte.
Als Samantha und Mike sich von Jubilee verabschiedeten, gab Samantha ihm einen Kuß auf die alte, lederartige Wange und sagte, sie glaube, daß sie sich bald Wiedersehen würden.
Draußen auf dem Treppenabsatz erwartete sie bereits der kleine Junge, um sie ins Erdgeschoß hinunterzubringen, und diesmal tat er etwas, daß Samantha seltsam vorkam: Er wollte, daß Mike ihn an die Hand nahm. Nun hatte Samantha zwar schon erlebt, daß Mike offenbar einen guten Draht zu Kindern hatte, aber die Verhaltens-weise dieses Jungen schien ihr doch etwas ungewöhnlich zu sein. Erst als sie wieder im Freien waren und sie bemerkte, wie Mike die Linke, in der er die Hand des Jungen gehalten hatte, in die Tasche schob, wurde ihr klar, daß das Kind Mike einen Zettel zugesteckt haben mußte. Von Ornette wahrscheinlich, dachte sie bei sich. Und ihr war ebenso klar, daß Mike versuchen würde, das, was auf diesem Zettel stand, vor ihr geheimzuhalten.
Und so benahm sie sich auf der Rückfahrt im Wagen so, als wüßte sie nichts von diesem Zettel. »Ornette«, bemerkte sie leichthin, »ich glaube, ich habe diesen Namen schon einmal gehört.«
»Ornette Coleman. Tenorsaxophon«, sagte Mike, aus dem Wagenfenster blickend.
Zu Hause angekommen, verschwand Mike sofort in seinem Schlafzimmer, und Samantha war überzeugt, daß er es kaum erwarten konnte, die Botschaft zu lesen. Als er wieder aus dem Zimmer kam, war er mit Shorts und einem T-Shirt bekleidet und hatte die Sonntagsausgabe der New York Times unter den Arm geklemmt. Sie verzehrten anschließend, beide die Zeitung lesend, draußen im Garten ihren - von einem Lieferanten ins Haus gebrachten - Lunch, und hielten dann im Liegestuhl Siesta -Mike immer noch in seine Zeitung vertieft, in der er offenbar stundenlang den Börsenteil las und Aktienkurse studierte, während Samantha den Laptop-Computer auf den Knien hielt und versuchte, alles einzugeben, was sie bisher über Maxie wußte.
Das war nicht viel. Maxie war - oder möglicherweise auch nicht - in zwei oder sogar drei Männer verliebt gewesen, wenn sie Cal hinzurechnete. Wie viele es letztendlich auch gewesen sein mochten: am Ende hatte sie sie alle verlassen. Wo war sie hingegangen und weshalb?
Alle paar Minuten unterbrach Samantha ihre Arbeit, erhob sich, etwas von einer Diskette murmelnd, die sie angeblich benötigte, aus ihrem Liegestuhl und verschwand im Haus, wo sie so lange, wie sie das meinte vertreten zu können, nach dem Zettel suchte. Sie suchte in den Kleidern, die Mike am Morgen getragen hatte, sah in allen Schubladen im Gästezimmer nach, schob sogar die Hand in seine Schuhe, ob er vielleicht dort etwas versteckt hielt.
Es war bei ihrem sechsten Ausflug ins Haus, daß sie in seiner Brieftasche nachzusehen wagte, denn irgendwie schien ihr das Durchstöbern einer Brieftasche die gröbste Verletzung der menschlichen Intimsphäre zu sein. Sie zögerte eine Weile, ehe sie seine Brieftasche von der Kommode nahm und sie öffnete. Sie entdeckte darin drei Kreditkarten, alle in Gold, und zwölfhundert Dollar in bar, was sie ein wenig rascher atmen ließ, fand aber kein Verzeichnis mit Telefon- oder Kontonummern. Doch als ihr einfiel, wie spielend leicht Mike fünf- und sechsstellige Zahlen im Kopf multiplizieren konnte, fand sie das Fehlen eines solchen Verzeichnisses nicht mehr verwunderlich. Vermutlich hatte er alle Nummern, die er brauchte, im Kopf.
Als sie die Brieftasche schon wieder auf die Kommode zurücklegen wollte, erinnerte sie sich daran, daß ihr Vater, als sie noch ein Kind gewesen war, eine Brieftasche mit einem Geheimfach besessen hatte, und als sie nun Mikes Brieftasche auf ein Geheimfach hin untersuchte, wurde sie fündig und zog das Papier heraus, das darin steckte.
Fast
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