Jene Nacht im Fruehling
über den Notenständer des Flügels hinausragte. Der Fernsehkamera war es offenbar gelungen, den Mann etwas größer erscheinen zu lassen, zudem ein paar Falten aus Jubilees Gesicht wegzudrücken und auch die Tatsache zu verschleiern, daß er kein Fleisch mehr auf den Knochen hatte, sondern nur noch dunkle, pergamentartige Haut. Der Mann glich eher einer Mumie als einem Menschen, und seine glitzernden Augen schienen so gar nicht zu diesem ausgezehrten Körper passen zu wollen.
Samantha ging lächelnd auf den alten Mann zu, der ihr mit einem Grinsen entgegenschaute und zwei phantastische Reihen falscher Zähne entblößte.
»Mein Name ist Samantha Elliot und ich bin Maxies Enkelin«, sagte Sam, dem alten Mann ihre Hand hinstreckend.
»Ich würde Sie überall erkannt haben. Sie sehen genauso aus wie sie.« Jubilees Stimme war gut, und Samantha hatte den Eindruck, daß er sie ebenso gepflegt haben mußte wie sein Piano. Die Haut seiner Hand fühlte sich an wie ein Stück hochwertiges Leder. Während er sprach, spielte er leise und auf eine geistesabwesende Weise, als sei er sich gar nicht bewußt, was seine Hände taten. Offenbar war das Klavierspielen für ihn etwas so Selbstverständliches wie das Atmen.
Mike begann Jubilee zu erklären, warum sie hierhergekommen waren, erzählte ihm von Doc und Maxie, von Samanthas Vater und der Biographie, die er schreiben wollte.
Während Mike sprach, spielte Jubilee mit einem entrückten Blick unentwegt weiter auf dem Piano, als hörte er ihm gar nicht zu. Als Mike mit seinem Vortrag zu Ende gekommen war, schaute der alte Mann Sam an. »Maxie sang Blues«, sagte er. »Keine Frau auf der Welt hätte ihn besser singen können.«
Da begann Samantha lächelnd das Lied anzustimmen, das Jubilee soeben auf dem Flügel gespielt hatte.
Der ungläubige Blick, mit dem Jubilee Samanthas Gesang zunächst begleitet hatte, wurde nun von Freude abgelöst - einer ganz besonderen Freude; denn hier erlebte ein alter Mann, wie etwas, das er für unwiederbringlich verloren gehalten hatte, seine Wiederauferstehung feierte, und einen Moment lang glaubte Samantha, Tränen in den Augen des alten Mannes blinken zu sehen. »Du hörst dich an wie sie, Mädchen«, sagte Jubilee und griff nun energisch in die Tasten. »Kennst du das?«
»>Weepin Willow Blues<«, erwiderte Samantha leise, als der alte Mann ein paar Takte vorspielte. Da konnte nicht mehr viel Kraft in diesem gebrechlichen Körper stecken; doch was davon noch übrig war, konzentrierte sich in den Händen.
Samantha öffnete den Mund, um zu singen, schloß ihn dann aber wieder, als durch das Fenster die klagenden Töne einer Stopftrompete kamen. Einen Moment lang sah sie Mike an, um sich zu vergewissern, daß sie sich noch in den neunziger Jahren befand; denn eine Stopftrompete gehörte nicht zu den Instrumenten einer modernen Jazz-Band.
»Hör nicht hin, Mädchen«, sagte Jubilee ungeduldig. »Das ist nur Ornette. Kennst du nun dieses Lied oder nicht?«
Samantha wußte, ohne Jubilee erst fragen zu müssen, daß der Trompeter dieser junge Mann war, der sie auf der Treppe so verächtlich gemustert hatte. Und sie wußte auch, daß er sie jetzt auf die Probe stellen wollte. Wenn dieser junge Mann etwas so Altes und Obskures wie den Weepin’ Willow Blues spielen konnte, dann mußte er ihn aus Liebe zu dieser Musik eingeübt haben und nicht, weil er damit Geld verdienen wollte. Und sie wußte weiterhin, ohne daß man ihr das erst sagen mußte, daß dieser junge Mann mit den zornigen Augen nicht glaubte, daß eine junge weiße, blauäugige Frau Blues singen könne.
Und so öffnete Samantha den Mund und sang das alte traurige Lied von einer Frau, die ihren Mann verloren hatte.
Als sie geendet hatte, sagte Jubilee kein Wort. Doch sie konnte ihm an den Augen ansehen, daß sie offenbar den richtigen Ton getroffen hatte.
Während Jubilee und Mike sie staunend ansahen, als hätten sie ein kleines Wunder erlebt, ging Samantha, einem Impuls folgend, ans Fenster und rief in herausfor-derndem, zornigen Ton in die Richtung, aus der die Trompetenklänge gekommen sein mußten: »Habe ich bestanden, Ornette?«
Da brachen sie beide, Mike und Jubilee, in ein Gelächter aus. Jubilee hörte sich dabei an wie ein altes Akkordeon mit einigen Löchern im Blasebalg.
»Sie singt nicht nur, sondern ist genauso wie sie«, sagte Jubilee, der vor Lachen fast erstickte. »Maxie hat sich auch vor niemandem gefürchtet.«
»Sie hatte aber Angst vor etwas«, meinte
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