Jene Nacht im Fruehling
der Mund offen, als der uniformierte Chauffeur ausstieg und sie in ihm Mikes Vetter Raine Montgomery erkannte.
»Guten Abend, Miss Elliot«, sagte Raine höflich und tippte mit dem Finger an den Schirm seiner Chauffeursmütze.
»Hast du die Blinis besorgt?« fragte Mike, den Arm so fest um Samanthas Taille legend, als hielte er Raine für einen Piraten, der sie zu entführen gedachte.
»Jawohl, Sir!« erwiderte Raine und knallte die Hacken zusammen. Dann eilte er ihnen voraus die Vortreppe hinunter und riß den hinteren Wagenschlag für sie auf. »Bist du sicher, daß du mit diesem Ding auch richtig umgehen kannst?« fragte Mike seinen Vetter, offensichtlich an dessen Fahrkünsten zweifelnd. »Frank bringt uns beide um, wenn du auch nur einen Kratzer in den Lack machst.«
»Wer ist Frank?« erkundigte sich Samantha beim Einsteigen.
»Mein ältester Bruder.«
Als Samantha im Wagen Platz genommen hatte, bemühte sie sich, still dazusitzen und ein gutes Benehmen zu zeigen; denn Frauen, die Modellkleider trugen, waren natürlich an Luxuslimousinen gewöhnt und krochen nicht in alle Ecken, um sie sich genau anzusehen. Doch Mike lachte und sagte: »Tu dir keinen Zwang an. Frank hätte sicherlich nichts dagegen.«
Da öffnete sie kleine Türen, schaute in Fächer, schaltete den Fernseher ein und wieder ab, und Mike faxte nach Colorado und erhielt ein Fernschreiben von seinem Großvater mit der Anfrage: »Michael, mein Junge, wann lernen wir Deine Samantha kennen?«
Sam sah Mike mit großen fragenden Augen an, die um eine Erklärung baten, was denn seine Familie von ihr wisse; doch Mike zuckte nur mit den Achseln.
Nach einer Weile lehnte sie sich ins Polster zurück und schaute nachdenklich Raine beim Chauffieren zu, der den Wagen geschickt durch den Verkehr lenkte. Sie hatte das Gefühl, daß sie Mike allmählich besser kennenlernte und auch einen kleinen Einblick gewonnen hatte in die Art, wie seine Familie funktionierte. »Wenn er das für dich tut - was wirst du dann für ihn tun?«
»Einen Blick in sein Portefeuille werfen.«
»In seinen Wertpapierbestand ? Warum würde er dich darum bitten wollen?« Sie wollte mehr über Mike wissen, denn sie hatte inzwischen festgestellt, daß er es ausgezeichnet verstand, möglichst wenig von sich selbst zu verraten.
»Weil keiner von den Montgomerys etwas von Mathematik versteht.« Und mit einem kleinen neidischen Unterton setzte er hinzu: »Sie verstehen sich gut auf Worte, aber miserabel auf Zahlen.«
»Du hast meine Frage noch immer nicht beantwortet: Warum würde er ausgerechnet dich bitten, dir seine Wertpapiere anzuschauen?«
»Weil ich gut bin auf diesem Gebiet, deswegen«, erwiderte er, und Sam wußte, daß das im Grunde gar keine Antwort war.
Als sie vor dem Pflegeheim anlangten, wollte Mike sie nicht aussteigen lassen, sondern verlangte, daß sie zehn Minuten im Wagen sitzen bleiben soll. »Ich möchte, daß sie uns alle sehen«, sagte er und blickte zum Heim hinüber. Aber durch die getönten Scheiben konnte man die Gesichter nicht erkennen, die sich an den Fenstern des Pflegeheims die Nasen plattdrückten.
Nach Ablauf dieser zehn Minuten öffnete Raine den Wagenschlag für sie, und Samantha entstieg so königlich, wie sie sich fühlte, der Luxuslimousine und ging den beiden Männern voraus zum Eingang des Pflegeheims. Mike trug seinen schönen italienischen Anzug, und Raine in seiner Chauffeursuniform, beide Arme schwer beladen, sah aus wie die gelangweilte Erfüllung des Wunschtraums reicher Mädchen. Als sie den Empfang erreichten, hatte sich jeder einigermaßen mobile Insasse des Heims in der Vorhalle eingefunden, um die drei in Augenschein zu nehmen. Vier Frauen und zwei Männer waren an fahr-bahre Galgen mit Infusionsflaschen und Schläuchen angeschlossen, und eine Frau war auf einem Rollbett von zwei anderen Frauen in die Halle geschoben worden.
Samanthas Arm festhaltend, trat Mike nun an den mit Hartplastik verkleideten Schalter des Empfangs und sah auf die farblose Schwester hinunter, die dahintersaß. Sie war offensichtlich die hier Aufsicht führende Person und trug diesen Status so vor sich her, als stünde es auf einem Brett vor ihrer Stirn geschrieben.
»Wir sind hier, um Ihre Königliche...«, begann Mike, und als er Samanthas schockiertes Gesicht sah, tätschelte er ihren Arm. »Verzeihung, meine Liebe - ich weiß, daß ich ständig vergesse, daß sie ihr Inkognito nicht gelüftet haben möchte. Welchen Namen verwendet sie
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