Jene Nacht im Fruehling
Ich werde dich jeden Tag anrufen. Ich hätte das sowieso getan, aber . . .«
»Hättest du das?«
»Hätte ich was?«
»Tatsächlich vorgehabt, mich täglich anzurufen?«
Er blickte sie erstaunt an. »Meinst du etwa, ich hätte dich in eine Stadt geschickt, in der es nur so von Montgomerys wimmelt, ohne täglich mit dir in Kontakt zu bleiben? Hältst du mich etwa für einen Idioten ?«
»Und worüber würden wir dann am Telefon reden? Über Doc?«
Lachend streckte Mike die Hand aus, um ihr über das Haar zu streichen. »Manchmal habe ich den Eindruck, Sam-Sam, daß du mit erheblichen Bildungslücken aufgewachsen bist. Worüber reden wohl alle Jungen und Mädchen, die aufeinander scharf sind, stundenlang am Telefon?«
Errötend blickte Samantha auf ihre Hände hinunter. Das hätte er nicht sagen dürfen, und sie überlegte, ob es nicht doch ratsamer wäre, wenn sie nach Maine führe. Aber dann faßte sie sich wieder und sagte energisch: »Ich werde hierbleiben und nach meiner Großmutter suchen. Und falls Sie glauben, daß ich . . .«
Sie verstummte, weil Mike ihren Kopf zu sich heranzog, bis ihre Lippen sich berührten. Er küßte sie mit einem solchen Verlangen, daß Samantha merkte, wie. sie zu zittern anfing, als sie die Hände auf seine Rippen legte und die kräftigen Muskeln dort unter ihren Fingern spürte.
»Glaubst du etwa, ich möchte nicht, daß du hierbleibst? Daß ich mir nichts lieber wünschte, als daß du hierbleiben würdest bei mir? Außer deinem Vater bist du der einzige Mensch, der sich für meine Biographie interessierte. Mein Dad liegt mir ständig in den Ohren, daß ich meine Dissertation zu Ende schreiben soll, damit ich einen Doktortitel bekommen kann. Aber wofür? Ich möchte weder unterrichten noch irgendwo in einem Büro arbeiten. Meine Brüder lachen über mich und reden abfällig von meinen >ollen Gangstern<. Sam, vielleicht will ich diese Biographie nicht nur für Onkel Mike schreiben. Vielleicht möchte ich sie meinetwegen schreiben, weil mir das so schwerfällt. Auf dem College war Mathematik für mich leicht, zu leicht sogar. Aber wenn ich tagelang in einer Bibliothek sitze, eingegraben bis zum Hals in alten, muffelnden Büchern, und da kommt plötzlich ein Mädchen in kurzem Rock vorbei mit einem Hinterteil, daß einem das Wasser im Mund ...«
Er grinste. »Kurzum - das Schreiben ist für mich eine echte Herausforderung, und ich lasse mich so leicht ablenken, aber so richtig Spaß hat es mir noch nie gemacht, bis du in dieses Haus gekommen bist. Du sitzt bei mir und gibst meine Notizen in den Computer ein, und dabei reden wir über dies und das, du bringst mich auf Ideen, und ...« Er nahm erst ihre rechte, dann ihre linke Hand und küßte sie auf die Innenseite. »Und manchmal läßt du mich dich auch küssen. Das war großartig, Sam, wirklich großartig.«
»Und so wird es auch bleiben«, sagte Samantha und drückte seine beiden Hände. »Mike, wir können gemeinsam an deiner Biographie Weiterarbeiten. Ich mag Bibliotheken, ich mag ...«
»Ja, und ich mag dich lieber lebendig als tot.«
Sie entzog ihm ihre Hände. »Diesmal wirst du deinen Kopf nicht durchsetzen, Mike. Ich werde in New York bleiben und nach meiner Großmutter suchen. Soweit ich das beurteilen kann, hast du zwei Möglichkeiten: Entweder bleibe ich in diesem Haus wohnen, und wir suchen gemeinsam nach ihr, oder ich ziehe in ein anderes Apartment und suche allein nach ihr.«
»Diese Sache ist zu ernst, Sam. Sie ist zu gefährlich.
Warum bist du denn so versessen darauf? Warum vergessen wir nicht das Ganze? So, wie es aussieht, hat Doc höchstens noch ein, zwei Jahre zu leben, und dann können wir in Ruhe ...«
»Aber das ist es doch, Mike«, fiel sie ihm ins Wort. »Begreifst du das denn nicht? Wenn Doc noch lebt, könnte doch auch meine Großmutter noch am Leben sein.«
»Aus dem einen folgert doch nicht das andere.«
Sie blickte ihn forschend an. In der Anfangszeit ihrer Bekanntschaft hatte er sie noch belügen und ihr Tatsachen vorenthalten können, ohne daß sie das merkte oder argwöhnte. Aber nun konnte er das nicht mehr. In diesem Moment war ihm deutlich anzusehen, daß er unaufrichtig zu ihr war. Sie sah das an der Art, wie er die Lippen zusammenpreßte. »Du verheimlichst mir etwas«, flüsterte sie. »Ich kann das in deinen Augen lesen.«
Mike stand auf und wollte gehen, aber sie versperrte ihm den Weg. »Was weißt du?«
»Nichts«, erwiderte er ärgerlich und drehte sich von ihr
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