Jenseits aller Tabus
gibt in diesem Haus eine strikte Ordnung, die einen reibungslosen Ablauf garantiert. Den Zeitplan finden Sie am Schwarzen Brett in der Küche. Unkenntnis schützt nicht vor einer Strafe«, referierte Patrick enthusiastisch weiter, als wären es nicht Mr Bellamys Regeln, sondern die seinen. Möglicherweise traf das sogar zu.
Langsam erwachte in Lucille die Ahnung, dass der Butler das Personal wie ein Feldwebel anführte und Craig Bellamy ihm die Kontrolle über seinen Haushalt überließ, da er zu beschäftigt mit seiner Schifffahrtsgesellschaft war.
»Rauchen ist auf dem ganzen Grundstück verboten, ebenso wie sich aus dem Kühlschrank zu bedienen und sich mit anderen Angestellten auf einen Plausch in irgendeine Ecke zurückzuziehen. Es ist strengstens untersagt, etwas ohne meine Einwilligung zu tun …«
Eigenes Denken stand wohl auch auf der Verbotsliste. Die Angestellten waren scheinbar eine Privatarmee aus Robotern. Das wurde Lucille nun wirklich zu blöd. Sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht laut aufzuschreien, und hatte keine Lust mehr, sich Patricks Anweisungen weiter anzuhören, deshalb ließ sie es zu, dass ihre Gedanken abschweiften und sie nur entfernt wahrnahm, was er ihr im Obergeschoss zeigte.
Sie tat so, als würde sie nicken, und schaute in Wahrheit nach, ob sich Schweißflecken unter ihren Achseln gebildet hatten. Erleichtert atmete sie auf. Ihre Uniform war tadellos. Trotz der Klimaanlage in der Villa schwitzte Lucille. Bei ihrer überstürzten Abreise aus Washington, D. C., hatten schon die ersten Herbststürme begonnen, das bunte Laub von den Bäumen zu wehen. Als sie auf dem Southwest Florida International Airport in Fort Myers gelandet war, hatte sie fast der Schlag getroffen. Obwohl es Oktober war, herrschten im Sunshine State noch immer schwüle achtundzwanzig Grad mit einer Luftfeuchtigkeit von siebzig Prozent.
Lucille kam sich vor, wie auf einem anderen Planeten – zumindest wie in einem anderen Land. Cape Coral wurde aufgrund seiner Wasserkanäle, die die Stadt wie Adern durchzogen, auch das Venedig Floridas genannt, aber sobald man einen Fuß in dieses Domizil setzte, befand man sich plötzlich abrupt in England. Craig Bellamy hatte offensichtlich ein Faible für Großbritannien. Er zog sich genauso altmodisch an, wie seine Inneneinrichtung exzentrisch war. Von außen sah sein Haus aus wie alle anderen Luxusvillen in diesem Viertel: groß, blendend weiß, als würde die Fassade jede Woche neu gestrichen werden, und charakterlos. Aber wenn man eintrat, fühlte man sich in ein britisches Adelshaus gebeamt.
Dunkle Ledersessel oder zweisitzige Sofas mit beigebraunem Paisleymuster flankierten die Korridore, ebenso wie edle Porzellanvasen mit filigranen gelben Blüten, vermutlich handbemalt. An den Wänden hingen Fotos in Rahmen aus Walnussholz. Lucille lief nicht nur in den Gängen, sondern auch in den Räumen auf braunem Teppichboden, und wunderte sich, denn in Staaten, in denen es das ganze Jahr über heiß blieb, verzichtete man für gewöhnlich auf alles Plüschige. Schiffsmodelle aus Holz standen auf Nussbaumvertikos, die Art-déco-Lampen an der Decke sahen so teuer aus, als würde jede einzelne mehr als ein Monatsgehalt von Lucille gekostet haben, und selbst die Türgriffe waren nicht einfach nur Klinken, sondern wahre Jugendstilkunst. Dieses Haus wirkte antiquiert, war aber bis ins Detail liebevoll eingerichtet worden.
Beiläufig ließ Lucille ihre Handfläche über die sandfarbene Barocktapete gleiten, um herauszufinden, ob sie die bronzefarbenen Einprägungen spüren würde.
»Vinyl-Satin, 200 Dollar pro Rolle«, rügte Patrick sie, worauf sie ihre Hand ertappt zurückzog. »Sie fassen nur Dinge an, die Ihnen aufgetragen wurden, anzufassen, betreten ausschließlich Räume, in denen Sie Arbeiten zu erledigen haben, und halten sich vom Gewächshaus fern.«
»Ja, Sir.« Hatte Craig Bellamy im Treibhaus etwa seine Leichen vergraben? Da ihre Stimme ein wenig zu patzig geklungen hatte, lenkte sie ab und zeigte rasch auf eins der Fotos. Ein Mann mit vollem Haar und grauen Schläfen stand vor einem Bronzeschild mit der Gravur BOC – Bellamy Ocean Carrier – und hielt den Daumen hoch. Das Werbe-T-Shirt der Reederei, das er trug, konnte die für sein fortgeschrittenes Alter durchtrainierte Figur nicht verbergen. »Das ist der Vater von Mr Bellamy, nicht wahr? Er hat dieselben Augen.«
Grün und stechend wie ein Alligator, fügte Lucille in Gedanken hinzu. Wahrscheinlich hatte
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